Ein Krieg wirft lange Schatten
Von Stefan Schocher
Oksanas Telefon klingelt unaufhörlich. Ihr Mann Wolodya überblickt die Szenerie rundum. Es wird gehämmert und geschraubt. Die beiden hatten einen großen Plan mit dem Stück Land samt einem alten Pionierlager in den nördlichen Vororten von Kharkiw. Aber Plan A wurde verschoben, und wie es weiter geht, liegt im Ungewissen. Der Krieg ist zwar weit weg in der Millionenstadt an der russischen Grenze. Angekommen ist er aber längst – vor allem in Form von bisher rund 120.000 Flüchtlingen. Und so liegt der Plan der beiden Unternehmer, aus dem ehemaligen sowjetischen Pionierlager Romashka nahe der Stadt, ein Erholungszentrum zu machen, auf Eis. In den Bungalows und Bauten des Lagers leben heute 180 Flüchtlinge. Zwischenzeitlich waren es 400.
Erst hatten die beiden einer schwangeren Frau mit drei Kindern aus Lugansk Unterkunft gewährt – zwei Wochen später, so erzählt Oksana, waren 200 Menschen in dem Lager. Allesamt von Krieg und Gewalt Vertriebene. Romashka dient dabei den allermeisten als Zwischenstation, bevor sie privat unterkommen. Und vorbei, so sagt Wolodya, sei die Krise, vor allem angesichts der massiv aufflammenden Kämpfe im Donbass und Lugansk, noch lange nicht. Das Problem in ihrem konkreten Fall: Als alles anfing, war Sommer, die Unterkünfte sind aber alles andere als winterfest. Nach und nach wird jetzt nachgerüstet.
Privates Engagement
1,2 Millionen intern Vertriebene sind bei ukrainischen Stellen registriert. Ausgegangen wird aber von einer mindestens doppelt so hohen Zahl – die Registrierung ist aufwendig und vor allem mitunter – wenn Dokumente verloren gingen – teuer. Den von Krieg und Wirtschaftskrise gebeutelten ukrainischen Staat hat diese Lage längst weit über den Rand des Bewältigbaren gebracht. Eingesprungen sind an allen Ecken – ob es nun um soziale Belange oder gar die Versorgung der Armee mit Kleidung und Nahrung geht – private Initiativen, wie die von Wolodya und Oksana.
Unterstützung erhalten die beiden von Organisationen wie der Caritas Österreich, die punktuell neue Initiativen stützt, aber vor allem auch ihre seit den 90er-Jahren bestehenden Einrichtungen in der gesamten Ukraine Flüchtlingen geöffnet hat.
Andrij Waskowycs, Präsident der Caritas Ukraine, spricht von einer beispiellosen Welle der Solidarität seit der Revolution in der Ukraine. Aber auch davon, dass die Ereignisse des vergangenen Jahres, die 2015 alles andere als abgeschlossen zu sein scheinen, alles auf den Kopf stellten. Die Bürde, die die ukrainische Gesellschaft dabei zu tragen habe, sei enorm, Hilfe von außen dringend nötig. Angesprochen darauf, dass in der Ukraine NGOs mehr denn je urstaatliche Aufgaben übernehmen, sagt er: "Es besteht das Bewusstsein in der Regierung – aber die Staatskasse ist einfach leer." Die Ukraine sei systematisch beraubt worden.
Granaten in Vorgärten
Eine ältere Dame stapelt vor einem Bungalow im Romashka-Lager Holz, sie lacht keuchend. Ihre Lippen aber werden schmal und zittrig, wenn sie auf ihre Heimat zusprechen kommt. Das ist der Ort, wo Granaten in Vorgärten landen, wo im Haus ihrer Nachbarn eine Granate durchs Dach ging, dort wo – als auch sie noch dort war ebenso wie heute – täglich Menschen sterben. Sie war Kranfahrerin. Nach Russland zu fliehen kam ihr nie in den Sinn. Ihr Land wolle sie nicht verlassen, zudem würde sie um ihre magere Pension umfallen.
Es sind aber nicht nur die Auswirkungen des Krieges, die Kharkiw zu spüren bekommt. Russland ist 40 Kilometer entfernt. Zu Anschlägen und Attentaten in der Stadt hat sich eine ominöse pro-russische Partisanengruppe bekannt. Regiert wird Kharkiw von einem Bürgermeister, der offen mit Separatisten geflirtet hat – wenn er auch im Stadtrat mit starker Opposition zu tun hat.
Oksana und Wolodya berichten von zahlreichen Problemen mit den Behörden, die man auch Schikanen nennen könnte. Und pro-ukrainische Aktivisten in der Stadt sagen, dass die Polizei nicht mehr tue, als mehr oder weniger willig politische Befehle zu befolgen, oder dem Meistbietenden zu dienen. Um das Lager Romashka patrouillieren daher auch Aktivisten des Rechten Sektors, einer nationalistischen Miliz – um das Lager vor Angriffen zu schützen, sagt Wolodya. Er macht sich keine Illusionen. Mehr Menschen werden kommen – und Romashka werde ihnen offen stehen, solange wie nötig.