Politik/Ausland

Ukraine: Der Selfie-Präsident muss jetzt liefern

Bisher konnte Wolodymyr Selenskyj einigermaßen zurückgelehnt das tun, was er in seinem beruflichen Vorleben als Schauspieler am besten tat: Sprüche klopfen. Als Präsident ohne Basis im Parlament war er im Präsidentensitz in Kiew praktisch auf sich alleine gestellt. Das Parlament hatte er in einer ersten Maßnahme ohnehin aufgelöst. Um tatsächliche Beschlüsse ging es in Selenskyjs noch junger Amtszeit bisher also nicht.

Am Sonntag wird nun ein neues Parlament gewählt. Und es sieht danach aus, als könnte Selenskyjs Fraktion in Zukunft die parlamentarische Arbeit in historischem Ausmaß dominieren. Laut Umfragen liegt die neu gegründete Partei des Präsidenten, „Diener des Volkes“, bei um die 40 Prozent – das wäre der mit Abstand höchste Wert, den eine politische Partei in der Geschichte der Ukraine jemals erreicht hat.

Großspurige Verbrechen

Für Selenskyj stelle sich derzeit also vor allem die Frage, ob er eine absolute Parlamentsmehrheit haben oder einen Koalitionspartner brauchen werde, so der deutsch Politologe Andreas Umland, der in Kiew lebt.

Völlig offen ist allerdings, wohin es nach der Wahl politisch gehen wird – angesichts großspuriger Versprechen Selenskyjs. Denn die klingen wie die prall gefüllte Naschlade an politischen Wünschen: Frieden, Ausgleich mit Russland, Austausch von Gefangenen, Wiederherstellung der territorialen Souveränität, Annäherung an die EU, Ende der Korruption, Wohlstand für alle. All das aber ohne eine Frage zu beantworten: Wie?

Denn was Reformen nach innen angeht, so gilt es ein verwirrendes Geflecht aus Seilschaften zwischen Wirtschaft, Politikern, Richtern, Beamten und Strafverfolgungsbehörden zu entwirren, das sich durch alle Ebenen zieht – und in dem Selenskyj nicht zuletzt selbst steckt: Wird ihm doch große Nähe zu einem der reichsten Ukrainer nachgesagt: Ihor Kolomoisky. Eine Nähe, die Selenskyj zurückweist. Zumindest aber setzt Kolomoisky große Hoffnungen in ihn.

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Gemischte Signale

Und was seine außenpolitischen Versprechen angeht, so kommen seitens Moskau gemischte Signale retour. Klar ist: Selenskyj sucht den Kontakt zu Kremlchef Wladimir Putin. Dieser aber hat wiederum mit seinem Treffen mit dem offen pro-russischen ukrainischen Oppositionspolitiker Viktor Medwedtschuk am Donnerstag klar gemacht, wer sein direkter Ansprechpartner in der Ukraine ist. Medwedtschuks Partei dürfte bei den Wahlen mit rund zehn Prozent auf Platz zwei landen. Bei dem Treffen bekundete Putin auch, die Beziehungen mit der Ukraine wieder herstellen zu wollen.

Zugleich unterschrieb Putin aber erst am Mittwoch ein Dekret, das allen Ukrainern aus den gesamten Gebieten Donezk und Lugansk das Ansuchen um russische Pässe erleichtert. Ein Ähnliches Dekret galt zunächst nur für Menschen, die in den „besonderen Gebieten“ der Ukraine leben – also Regionen unter Kontrolle von Milizen, die Moskau nach wie vor logistisch und materiell gegen Kiew unterstützt.

Nicht zuletzt bestehen aber auch innerukrainische Hürden. Als „widersprüchlich“ bezeichnet Umland die Lage. Also vor allem den Umstand, dass der Wahlentscheidung für Selenskyj zumeist der Wunsch nach Frieden zugrunde liege – jede Form von Kompromiss mit Russland zugleich aber mit Skepsis betrachtet werde. Daraus ergebe sich eine gewisse Zwangslage für Selenskyj. Eine, die durchaus heikel werden könne: Denn große Zugeständnisse an Moskau hätten das Potenzial, zu Unruhen zu führen.

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Breite Koalition

Umland geht davon aus, dass Selenskyj eine breite Koalition mit zwei oder drei Parteien anstreben werde, sollte das nötig sein. In Frage kommt vor allem die Vaterlandspartei von Julia Timoschenko und die nationalliberale Partei des Rocksängers Swjatoslaw Wakartschuk, der sich schon in der Revolution 2004/2005 engagiert hatte.

Eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für Selenskyj ortet Umland vor allem in der eigenen Partei – ein, wie er sagt, „bunter Haufen“ von Politikern die von Selenskyjs Popularität profitieren wollten. Eine geeinte Programmatik gebe es nicht – dafür aber bereits Flügelkämpfe. Ob es sich dabei um mehr als den Wahlverein für eine Person handle, wagt er aber noch nicht vorherzusagen.