Aufstand der Unterprivilegierten
Von Stefan Schocher
Aus der Ankündigung wurde eine Brandrede. Als Denis Pushilin, Leiter der Wahlkommission der selbst erklärten Volksrepublik Donezk, im besetzten Regierungsgebäude in Donezk am Donnerstag vor die Presse trat, tat er das mit einem Bewaffneten im Rücken. Es war ein symbolträchtiger Aufritt.
Das für Sonntag geplante Referendum über die Loslösung der Region von der Ukraine wird stattfinden und nicht verschoben. Die Frage wird sein, ob der Wähler die Deklaration der unabhängigen Volksrepublik Donbass unterstützt.
Kiews Schuld
Neben dieser Botschaft jedoch hatte der Rebellenführer auch eine ganze Latte an Anschuldigungen gegen die Regierung in Kiew im Gepäck. "Faschisten" seien das, die dem Volk den Krieg erklärt hätten. Denn das, was sich in der Ostukraine zutrage, sei längst ein Bürgerkrieg, ja mit Blick auf die Tragödie von Odessa sogar ein Genozid. Und nur das Referendum könne die Situation auf einen politischen Prozess zurückführen. Alles was man wolle, sei Frieden. Ein Wort, das wieder und wieder fällt in Pushilins langen Ausführungen.
"Russland hat uns fallen lassen", sagt ein Breitschultriger unter einer Sturmhaube im Stiegenhaus des Gebäudes. Hatte doch am Vortag Russlands Präsident Wladimir Putin zu einer Verschiebung des Referendums aufgerufen und die bevorstehende Präsidentenwahl am 25. Mai als "Weg in die richtige Richtung" bezeichnet. Eine Aussage, die auf gewissen Unwillen bei jenen Menschen stieß, die sich längst auf eine hoffnungsvolle, leuchtende Zukunft in Unabhängigkeit oder im Verband der Russischen Föderation eingestellt haben.
"Nun, das wird der Beginn des Krieges sein", sagt eine junge Frau, die in hochhackigen Schuhen durch Wasserlacken vorbei am besetzten Regierungssitz zur Arbeit stakst, zur Entscheidung der Separatisten. "Das ist das Ende des Krieges", sagt hingegen ein älterer Herr mit einer Georgs-Schleife an der Tasche, einem Symbol der pro-russischen Separatisten. Aber auch er sagt: "Russland hat uns im Stich gelassen." Er fügt hinzu: "Kiew hat uns den Krieg erklärt."
Es ist nicht klar, wer derzeit in der Millionenstadt Donezk tatsächlich das Sagen hat. Nur so viel ist sicher: Die Regierung ist deutlich geschwächt. Polizeieinheiten zeigen offene Sympathie für die Besetzer der Regionaladministration.
Leere Bankomaten
Die Unsicherheit hat ihre Folgen: Geldautomaten sind notorisch leer – weil sie niemand befüllt oder weil sie sofort leer geräumt werden, ist nicht so klar. Eine Verkäuferin in einem Laden sagt: Vor allem Konserven würden derzeit gekauft wie nie zuvor. Zahlreiche Läden auf dem Hauptboulevard der Stadt haben geschlossen.
Spannende Tage stehen bevor. Am Freitag wird der Tag des Sieges der Sowjetunion gegen Nazideutschland gefeiert werden – vor allem für russophile Ukrainer ein hoher Feiertag. Erwartet werden Ausschreitungen. Es gibt viele, die befürchten, dass das bevorstehende Referendum am Sonntag mehr Spannungen als Lösungen bereiten wird. Sie glauben, dass es der Freitag sein wird, an dem sich die Separatisten im Osten des Landes flächendeckende Infrastruktur sichern wollen – also vor allem Polizeistationen und Verwaltungsgebäude.
Aber ebenso unklar wie die Oberhoheit über die Region ist die Stimmungslage. Bei der Verkündung der Entscheidung vom Donnerstag hatten sich vor der Regionaladministration gerade einmal 100 Leute eingefunden. Bei anti-ukrainischen Großdemonstrationen in der Stadt waren kaum 5000 gekommen. Noch kleiner waren pro-ukrainische Kundgebungen in Donezk.
Laut jüngsten Umfragen in der Ostukraine befürworten aber mehr als 70 Prozent der Menschen einen Verbleib des Gebiets bei der Ukraine – wenn auch wiederum eine Mehrheit der Bevölkerung eine Föderalisierung, also mehr Befugnisse für die Regionalregierungen, befürwortet (siehe Interview unten).
Politikverdrossen
"Russland, Ukraine – mir egal", so die Meinung eines jungen Mannes, der breitbeinig stehend vor einem Café eine Zigarette raucht. Er grinst etwas verlegen und sagt. "Das ist doch alles Politik, und Politik dreht sich nie um die Wünsche der Menschen." Er habe seinen Job, wie er sagt, eine Wohnung und solange das gegeben sei, wolle er sich nicht um solche Dinge kümmern.
Ein anderer junger Mann, ein Student, sagt: "Donezk ist eine entweder sehr reiche oder sehr arme Stadt – und das, was wir hier jetzt sehen, ist nichts anderes als der Aufstand Unterprivilegierter, eine Revolte jener, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten viel verloren und nichts gewonnen haben." Darum gehe es hier in diesem Konflikt in der Ostukraine – und um nichts anderes.
Teil der Hilfsgelder für die Ukraine fließt an Gazprom
Die Hilfsgelder für die Ukraine – elf Milliarden Euro kommen von der EU – werden teilweise in die Begleichung der Schulden Kiews beim russischen Gaslieferanten Gazprom fließen. EU-Kommissar Günther Oettinger zeigt im Standard-Interview Verständnis dafür, dass Gazprom auf eine Begleichung der Schulden besteht. Die Gazprom stehe zu 49 Prozent im Eigentum Privater und müsse Gewinne machen. Russland will Kiew ab Juni nur noch auf Vorauskasse beliefern. Als Grund werden offene Rechnungen in Milliardenhöhe genannt.
Tatyana Nagornyak ist Politologin an der staatlichen Universität Donezk. Mit dem KURIER sprach sie über ...
... die Unklarheit, wer nun die Kontrolle über die Region hat
... die Besonderheiten der Ostukraine
Wir sind hier in einer Grenzregion, die sich vom Rest der Ukraine in vielem unterscheidet. Als die Sowjetunion zerfallen ist und die Ukraine unabhängig wurde, wurde das in anderen Landesteilen gefeiert. Hier wurde es als belanglose Formalität aufgefasst. Statt ukrainischer Kultur und Sprache ist hier das russische Szenario attraktiv.
... die Zusammensetzung der separatistischen Bewegung
Ich bin sicher, dass der gestürzte Präsident Janukowitsch hinter den Separatisten steht. Er und sein engster Kreis – das ist die erste Gruppe. Zweitens: Lokale Eliten in der Verwaltung und Exekutive, die hier immer so eine Art russische Rolle gespielt haben. Und Drittens – und das ist die gefährlichste Gruppe: Die Fußsoldaten – Arbeitslose, Frustrierte, die jetzt bewaffnet sind. Letztere werden nach dem Krieg zu einem großen Problem werden. Ja, es ist ein Krieg. Einer des 21. Jahrhunderts.
... die Motivation hinter den Protesten
Die Menschen sind müde. Sie wollen Sicherheit, Arbeit, Bezahlung, die auch für ein halbwegs anständiges Leben reicht. Die Russische Föderation erscheint ihnen als Garant für Sicherheit und Stabilität, aber: Laut jüngsten Umfragen in der Region wollen 72 Prozent der Bevölkerung keinen Anschluss an Russland. Die Föderalisierung aber ist populär – aus ganz einfachen Gründen: Weil mehr Geld dann in der Region verbleiben wird und nicht nach Kiew geht.
... das Assoziierungsabkommen mit der EU
Die Ukraine wird nie EU-Mitglied. Und so etwas wie eine assoziierte Mitgliedschaft gibt es nur auf dem Papier, nicht aber in der Realität. Und: Kein Land sollte einem anderen Land aufzwingen, mit wem es Handel treibt und mit wem nicht. Das gilt sowohl für Russland als auch für die EU.
... Wege aus der Krise
Wir müssen dieses Chaos beenden, Gebiete zurückgewinnen. Und wir müssen die Timoschenko-Leute aus der Regierung bekommen. Wir brauchen dringend Wahlen. Wer auch gewinnen wird: Die vergangenen Monate haben jedem Politiker gezeigt, dass es nur Tage braucht, um ihn aus dem Amt zu fegen.
Serhij Taruta ist der von Kiew eingesetzte Gouverneur der Region Donbass – ein schwieriger Job dieser Tage. Taruta ist zugleich Unternehmer und einer der reichsten Männer der Ukraine. Auf genau solche Leute zählt die ukrainische Regierung in der Ostukraine – Menschen, die schon alleine zum Schutz ihrer eigenen Unternehmen Ruhe schaffen sollen. Der KURIER befragte Serhij Taruta...
...zu den Protesten
...zu den Machtverhältnissen und Militäroperationen
Wir haben hier keinen Krieg, was das ukrainische Militär angeht: Die Operation wird nicht von der Armee durchgeführt, sondern von Sicherheitskräften und Einheiten des ukrainischen Innenministeriums. Diese Einheiten sind nicht die Armee, es handelt sich um eine Anti-Terror-Operation. Kiew versucht, die Lage friedlich zu lösen, es werden Blockaden errichtet. Wir isolieren die Separatisten und zwingen sie, zu einer friedlichen Lösung zu kommen. Es werden keine großen Militäraktionen durchgeführt, sondern präzise lokale Einsätze.
...zu den Lösungsmöglichkeiten
Der Umstand, dass sie (die Separatisten) die OSZE-Leute gehen haben lassen, zeugt davon, dass ein Dialog möglich ist und vor allem dazu dient, Leben zu retten – auf beiden Seiten der Barrikaden. Ich denke, dass die weitere Isolation von jenen, die in Slawjansk festsitzen, nicht gewollt wird. Diese Stadt ist praktisch abgeriegelt. Es geht hier um tägliche Bedürfnisse. Ich bin sicher, dass sich die Menschen in Slawjansk sehr bald gegen jene erheben werden, die sie an ihrem normalen Leben hindern. Heute sind die Schulen geschlossen, die Spitäler, die Läden sind leer, und was bevor steht, ist nichts anderes als eine humanitäre Katastrophe. Die, die sich heute als Kämpfer des Donbass und von Slawjansk aufspielen, werden schon bald die Feinde vor allem der lokalen Bevölkerung sein. Und derart wird der Konflikt gelöst werden.
...zu den Präsidentenwahlen
Ich hoffe, dass die Wahlen stattfinden werden, wir bereiten uns darauf vor – mit den maximal möglichen Vorkehrungen. Wir erwarten Provokationen, aber diese werden kein Massenphänomen sein, das dazu führen könnte, die Wahl abzubrechen.