Politik/Ausland

Türkische Regierung droht mit Einsatz der Armee

Durch einen Generalstreik am Montag spitzt sich die Lage in der Türkei weiter zu. Fünf Gewerkschaftsverbände riefen zum Protest gegen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan aus - Hunderttausende sollen damit landesweit ihre Arbeit niederlegen.

In der Hauptstadt Ankara hat die Polizei allerdings den Protestzug von Gewerkschaftern gestoppt. Sie brachte Wasserwerfer gegen rund 1000 Demonstranten in Stellung. Die Menge solle die von ihr blockierte Hauptverkehrsstraße im Zentrum wieder räumen, verlangte die Polizei. Ansonsten würden die Wasserwerfer eingesetzt. "Provoziert nicht. Die Polizei wird Gewalt anwenden", riefen Polizisten per Lautsprecher den Demonstranten zu. Diese wollten in den zentralen Stadtteil Kizilay ziehen.

Sollte der Einsatz der Polizei gegen die Proteste "nicht ausreichen, können auch die Streitkräfte eingesetzt werden", sagte Vize-Ministerpräsident Bülent Arinc am Montag im Fernsehen.

Güler droht mit Konsequenzen

Im Vorfeld hat Innenminister Muammer Güler den Streik bei einer Pressekonferenz in Ankara bereits scharf verurteilt. Jeder, der sich am Streik beteilige, müsse mit den Konsequenzen rechnen. "Die Bürger sollten keine illegalen Aktionen planen. Keiner hat das Recht mit solchen Protesten den Alltag zu stören", wird Güler in der Online-Zeitung Hürriyet Daily News zitiert. "Sonst müssen die Konsequenzen getragen werden", droht der Innenminister weiter. Das Militär sei aber noch nicht gerufen worden, beantwortete Güler eine entsprechende Frage der Journalisten.

Die offene Drohung des Ministers ist nur eine weitere Etappe im Machtkampf zwischen der AKP-Regierung und den Demonstranten. Als Zeichen seiner Stärke ließ Erdogan am Sonntag Hunderttausende in Istanbul aufmarschieren, die türkische Polizei ging wieder gewaltsam gegen die Demonstranten vor. Diesmal hätten auch Anhänger der islamisch-konservativen Regierung von Erdogan in Istanbul erstmals Oppositionelle in der Protestbewegung attackiert. Es kam zu Straßenschlachten. 600 Menschen wurden festgenommen.

Aktivisten berichteten, die Polizei habe ein Krankenhaus mit einem Wasserwerfer angegriffen, nachdem sich Demonstranten dorthin geflüchtet hatten. Angaben der Istanbuler Anwaltskammer zufolge seien seit Samstag 350 Menschen in Gewahrsam genommen worden, berichtete das englischsprachige Onlineportal der Zeitung Hürriyet.

Erdogan: Demonstranten "sind Terroristen"

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Zuvor hatteErdogan seine jubelnden Anhänger für eine Rede in Istanbul mobilisiert. Vor Tausenden verunglimpfte der Ministerpräsident die Protestbewegung als "Terroristen" und "Gesindel". Er blieb auf Konfrontationskurs und wies Kritik an seiner Politik zurück. Das Verhalten der Demonstranten führe nicht zum Frieden, erklärte er in seiner rund einstündigen Ansprache. Unter den gegenwärtigen Umständen könne er den Regierungsgegnern keine weiteren Versammlungen gestatten. "Es ist nur eine Minderheit, die versucht, die Mehrheit zu beherrschen. Das können wir nicht zulassen", sagte er. Erdogans Regierungspartei AKP versucht mit der gigantischen Demonstration Stärke zu zeigen.

In der vorangegangenen Nacht war die Gewalt in der Innenstadt abermals eskaliert. Sicherheitskräfte stürmten den Gezi-Park und setzten erneut Tränengas und Wasserwerfer ein. Hunderte Demonstranten flohen in Seitenstraßen. Etliche Verletzte wurden Augenzeugen zufolge auf Tragen aus dem Park gebracht und in Krankenwagen abtransportiert. Die Polizei feuerte Tränengas in die umliegenden Straßen, um die Demonstranten weiter zu vertreiben. Viele von ihnen flüchteten in Panik in ein Hotel am Rande des Parks. Einige hätten sich dort übergeben müssen. Familien mit kleinen Kindern seien in Seitenstraßen gerannt, um sich vor der Polizeigewalt zu schützen.

Bilder der Stürmung des Gezi-Parks am Samstag

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Ursprünglich richtete sich der Widerstand in Istanbul gegen die Bebauungspläne der Regierung für den Gezi-Park. Doch als die Polizei vor zwei Wochen erstmals gewaltsam gegen die Demonstranten vorging, löste dies eine Welle der Wut und Empörung aus, die in die größten Proteste seit Beginn der rund zehnjährigen Amtszeit Erdogans mündete.

Dabei kamen nach Angaben des Ärzteverbandes bisher vier Menschen ums Leben und etwa 5000 wurden verletzt. Die Demonstranten werfen dem konservativen Ministerpräsidenten einen zunehmend autoritären Regierungsstil vor und befürchten eine schleichende Islamisierung des Staates.

In der Türkei läuft momentan alles aus dem Ruder. Schuld daran ist nicht nur der wegen seines autoritären Führungsstils zu Recht kritisierte Premier Erdogan, auch die Protestbewegung trägt Verantwortung dafür.

Zunächst zum Regierungschef: Dieser glaubte in seiner selbstherrlichen und egomanischen Art, das Land wie ein Sultan führen zu können. Zudem ist die völlig überzogene Polizeigewalt, mit der er die Beamten gegen Demonstranten vorgehen lässt, inakzeptabel und einer Demokratie unwürdig. Und dass Erdogan am Sonntag auf dem Taksim-Platz, dem Epizentrum der Proteste, seine Anhänger aufmarschieren ließ, ist eine unnötige Provokation. Umgekehrt war er den Aktivisten, die den benachbarten Gezi-Park besetzt hielten, insofern entgegengekommen, als er einen Baustopp für die dort geplante umstrittene Kaserne angeordnet und ein Referendum in Aussicht gestellt hatte.

Die Demonstranten lehnten ab. Gewiss, es geht ihnen nicht nur mehr um die paar Bäume, die dem Bauwerk zum Opfer fallen sollen, sie fordern den Rücktritt des Premiers. Bloß: Der ist demokratisch gewählt und bewegt sich grosso modo innerhalb des Rechtsstaates. Auch die Besetzung der Hainburger Au endete, nachdem ein Baustopp verfügt worden war.

Abrüsten! Auch verbal

Beide Seiten setzen leider auf Eskalation, was gut an zwei Zitaten abzulesen ist: Eine junge Demonstrantin forderte die Regierung zum „geschlossenen Selbstmord“ auf, der für die EU-Verhandlungen zuständige Minister Egemen Bagis nannte die Protestierenden „Terroristen“.

Abrüstung, auch verbal, ist dringend nötig – auf beiden Seiten. Andernfalls versinkt die Türkei im absoluten Chaos. Dann könnte das zwar von Erdogan in die Kasernen verbannte, aber immer noch mächtige Militär einschreiten. Und das kann in niemandes Interesse sein. Der einzige Ausweg: ein runder Tisch.

Noch in der vergangenen Woche war es lediglich ein lokaler Protest gegen eine Städtebau-Projekt in Istanbul, inzwischen hat der Proteststurm in der Türkei mehr als 60 Städte erfasst. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sieht sich mit dem größten politischen Flächenbrand seit seinem Amtsantritt im Jahr 2002 konfrontiert:

28. Mai: In der Millionen-Metropole Istanbul gibt es eine Demonstration gegen den Bebauungsplan im Gezi-Park in der Nähe des Taksim-Platzes. Erdogans Partei will dort ein osmanisches Kasernengebäude aus dem 18. Jahrhundert nachbauen und darin Cafés, Museen oder auch ein Einkaufszentrum unterbringen.

31. Mai: Die Polizei in Istanbul setzt Tränengas gegen mehrere hundert Demonstranten ein. Es gibt mindestens zwölf Verletzte.

1. Juni: Die Proteste in Istanbul werden gewalttätiger, die Demonstranten werfen Steine und Flaschen, die Polizei setzt Tränengas und Pfefferspray ein. Der Funken springt auf andere Städte über. Amnesty International sprich von hundert verletzten Demonstranten. Erdogan räumt "einige Fehler" im Verhalten der Polizei ein, die vom Taksim-Platz abgezogen wird. Dort rufen die Demonstranten nun auch: "Regierung, tritt zurück!"

2. Juni: Erste große Protestkundgebung in der Hauptstadt Ankara: Rund tausend Demonstranten versuchen zum Regierungssitz zu ziehen. Die Polizei setzt Wasserwerfer und Tränengas ein. Amnesty International beklagt, mehrere Demonstranten seien durch das Tränengas erblindet. Die Angaben zur Bilanz der Auseinandersetzung gehen nun weit auseinander: Innenminister Muammer Güler spricht von 58 verletzten Zivilisten und 115 verletzten Polizisten landesweit. Er gibt die Zahl der Festgenommenen mit 1700 in 67 Städten an. Menschenrechtsgruppen bilanzieren ihrerseits inzwischen tausend Verletzte in Istanbul und 700 in Ankara.

3. Juni: Präsident Abdullah Gül versichert den Demonstranten, ihre Botschaft sei "angekommen". Erdogan seinerseits will nicht zurückstecken und lehnt es vehement ab, in Anlehnung an den Arabischen Frühling nunmehr auch von einem Türkischen Frühling zu sprechen. In der Provinz Hatay wird laut dem Sender NTV ein 22-jähriger Demonstrant von einem Unbekannten angeschossen und so schwer verletzt, dass er im Krankenhaus stirbt.

4. Juni: Erneute Zusammenstöße zwischen Demonstranten und der Polizei in Istanbul und Ankara. In der Stadt Antakya wird nach Angaben von Behördenvertretern ein weiterer Demonstrant getötet. Laut Vizeregierungschef Arinc wurden bisher 244 Polizisten und 64 Zivilisten verletzt. Aktivisten sprechen dagegen weiter von hunderten Verletzten. Zwei große Gewerkschaften, KESK und DISK, unterstützen die Protestbewegung mit einem Aufruf zu einem zweitägigen Streik.

5. Juni: Tausende folgen dem Streikaufruf. Sie fordern lautstark Erdogans Rücktritt. Anführer der Protestbewegung treffen Arinc in Ankara und übergeben einen Forderungskatalog: sie verlangen unter anderem ein Einsatzverbot für Tränengas, die Freilassung festgenommener Demonstranten und die Entlassung der für brutale Polizeieinsätze verantwortlichen Polizeichefs. In Izmir werden 25 Menschen wegen Übermittlung "irreführender und verleumderischer" Nachrichten über den Kurznachrichtendienst Twitter festgenommen.

6. Juni: Nach Medienberichten stirbt erstmals ein Polizist seinen Verletzungen im Krankenhaus. Erdogan verkündet bei einem Besuch in Tunis, er wolle von dem umstrittenen Bauprojekt nicht abrücken. Er sieht auch "Terroristen" unter den Demonstranten.

14. Juni: Nach einem Treffen von Regierungschef Recep Tayyip Erdogan mit Vertretern der sogenannten Taksim-Plattform in der Nacht auf Freitag in Ankara sagte Regierungssprecher Hüseyin Çelik, dass die Regierung nunmehr die endgültige Entscheidung des Gerichts abwarten wolle, das die Bauarbeiten gestoppt hatte.

15. Juni: Erdogan hat die Demonstranten, die seit Wochen den zentralen Gezi-Park in Istanbul besetzt halten, aufgefordert, bis Sonntag abzuziehen. Die Demonstranten sollten den Park räumen, bevor eine Großkundgebung der regierenden AKP auf dem angrenzenden Taksim-Platz abgehalten werde.