Politik/Ausland

Türkei: Erdoğan legt sich mit ganz Europa an

"Sie haben Hunde auf unsere Bürger gehetzt!" – klagen der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu, die türkische Familienministerin Fatma Betül Sayan Kaya, die Nachrichtensprecherin von CNNTürk und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan einstimmig über die holländische Polizei, die sich mit Pferden und Hunden gegen die aufgebrachten Demonstranten vor der türkischen Botschaft in Amsterdam zur Wehr gesetzt hat.

Mit Tränen in den Augen berichtet Ministerin Kaya vor laufenden Kameras vom brutalen Vorgehen gegen sie, eine Frau und Diplomatin. Mehmet Görmez, Leiter des Amts für Religionsangelegenheiten, ruft sogar Papst Franziskus auf, diese fürchterlichen Maßnahmen, mit denen die Muslime in Europa unterdrückt werden, zu verurteilen.

Die türkische Öffentlichkeit ist empört. Bereits am Samstag hatte es in Istanbul und Ankara vor den Vertretungen der Niederlande vereinzelte Proteste gegeben, die in der Nacht erneut aufflammten. Auch Sonntagnachmittag kam eine Gruppe Demonstranten zusammen, um lautstark mit Rufen wie "Allah ist groß! Es gibt nur einen!" oder "Europa provoziere uns nicht, sonst kochen wir hoch!" gegen das Redeverbot der türkischen Minister zu demonstrieren. Flaggen wurden geschwenkt, das Zeichen der faschistischen Grauen Wölfe gezeigt; zeitweise flogen auch Eier.

Laut türkischen Regierungskreisen und Medien reagierte das Konsulat mit dem Hissen der türkischen statt der eigenen Fahne. Die Niederlande sind empört und legten Protest ein. Ein Eindringling sei es gewesen. Ein Video zeigt einen Mann, der auf dem Dach steht, den Nationalistengruß macht und "Allah ist groß" schreit.

Die Polizei hat mehrere Hundertschaften vor dem Konsulat aufgefahren. Passanten müssen Taschenkontrollen hinnehmen – das Konsulat befindet sich auf einer der belebtesten Shoppingmeilen der Stadt.

Neider und Nazis

Die Regierungspartei AKP und Präsident Erdoğan kommt das alles sehr zu Pass. Von Deeskalationspolitik daher keine Spur. Unablässig treten sie im türkischen Fernsehen auf und halten lange Reden, in denen sie das Volk tiefer auf einen muslimischen Nationalismus einschwören, den Westen als entmenschlichten Feind darstellen und wüst beschimpfen: Als Neider, Nazis und Faschisten, als janusgesichtig, als Menschenrechtsverletzer und als Unterstützer der schlimmsten Feinde, nämlich der Terroristen jedweder Couleur, welche die Türkei vernichten wollen.

Bei der Bevölkerung löst das die gewünschte Reaktion aus: Sie fühlen sich bei ihrer Ehre gepackt, sie sehen ihre Religion beleidigt und rufen, während sie vor dem Konsulat in der Bosporus-Metropole demonstrieren, zur nationalen Mobilmachung auf. Damit sind sie genau in der Stimmung, in der die Masse der aufgebrachten Bürger, blind vor Wut zu allem bereit ist – außer dazu, rational die Situation zu bedenken. Und das nur fünf Wochen vor dem Referendum über die massive Machterweiterung Erdoğans.

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Das war es möglicherweise auch, was die beiden Minister am Samstag dazu veranlasste, die eindeutige Warnung der Niederländer zu missachten: Hätten diese klein beigegeben und die Türken sprechen lassen, hätten sie für ihre Sache zwar werben können. So schlachten sie aber die hausgemachte Krise aus und gewinnen, indem sie die nationalistischen Gefühle bedienen, noch mehr Stimmen, nämlich auch in der Türkei.

Kalkül geht auf

Nicht zum ersten Mal versteht es die Regierung Erdoğan, außenpolitische Konflikte nationalistisch zu instrumentalisieren und innenpolitisch auszuschlachten. Regierungsfreunde und Opposition sind sich einig: Durch den Konflikt mit Holland kann Erdoğan mehr Ja-Stimmen gewinnen, als durch Wahlkampfgetingel in Europa je möglich gewesen wäre. Und die kann er dringend brauchen: Meinungsumfragen zeigen, dass es auf des Messerschneide steht, ob er genug Stimmen für das von ihm erhoffte "Ja" beim Verfassungsreferendum im April erhalten wird.

Noch einen Vorteil hat die Situation für die Regierungspartei und Erdoğan: Während die Türken in Istanbul und Ankara gegen die von der AKP behaupteten Menschenrechtsverletzungen in Europa demonstrieren, haben sie keine Energie mehr, um sich gegen die Missstände im eigenen Land aufzulehnen.

Kein Verbot, kein Eklat, kein Problem: Reibungslos verlief der Auftritt des türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu am Sonntag in der ostfranzösischen Stadt Metz. Er nutzte seine Rede vor der türkischen Community dort aber für umso heftiger Verbalangriffe auf die Niederländer, die ihm am Samstag sogar die Landegenehmigung verweigert hatten, um seine Rede in Rotterdam zu verhindern. Die Niederlande seien die "Hauptstadt des Faschismus", polterte Çavuşoğlu und drohte mit Konsequenzen. Er forderte eine Entschuldigung – auch für das Vorgehen Rotterdams gegen die türkische Familienministerin – und zugleich twitterte er, eine Entschuldigung der Niederländer sei nicht genug.

Ministerpräsident Mark Rutte hatte dem Sender WNL am Sonntag gesagt, er werde sich um eine Deeskalation bemühen. Eine Entschuldigung kam von ihm aber nicht. Das ist auch nicht vor den Wahlen am Mittwoch zu erwarten.

Für Familienministerin Fatma Betul Sayan Kaya war 30 Meter vor dem türkischen Konsulat in Rotterdam Schluss gewesen. Dann musste sie aus ihrem gepanzerten Diplomatenauto aussteigen. Schreiende türkische Demonstranten und ein riesiger Pulk an Polizisten beobachteten inmitten der spannungsgeladenen Atmosphäre der vergangenen Nacht auf Sonntag, wie die Ministerin höchst unwillig ein anderes Auto bestieg und mit Polizeischutz Mitten in der Nacht wieder zur deutschen Grenze zurückeskortiert wurde. Für die niederländische Regierung ist sei seither eine "unerwünschte Ausländerin".

Die Ministerin twitterte: "Angesichts dieser faschistischen Praktiken muss die Welt im Namen der Demokratie aufbegehren." Und weiter: "Demokratie, Grundrechte, Menschenrechte und Freiheiten....Alles vergessen in Rotterdam heute Abend. Lediglich Tyrannei und Unterdrückung."

Der regierungskritische Journalist Can Dündar, der sich nach Deutschland abgesetzt hat, konterte ebenfalls per Twitter: "Ich freue mich sehr zu sehen, dass türkische Amtsinhaber sich an diese Werte erinnern."

Die Niederlande "werden den Preis dafür zahlen", drohte am Sonntag auch Präsident Recep Tayyip Erdoğan vor Anhängern in der Westtürkei. Für ihn ist eine Normalisierung der Beziehungen zu den Niederlanden vorerst nicht in Sicht. Die Niederlande hätten sich "nicht wie ein Rechtsstaat, sondern wie eine Bananenrepublik verhalten". Erst müssten die Niederlande den Preis für dieses "unanständige" Verhalten bezahlen, polterte er.

Schwer empört ist auch der Bürgermeister der Hafenmetropole Rotterdam, Ahmed Aboutaleb. Er hatte den Auftritt der Familienministerin untersagt, nachdem bereits zuvor die niederländische Regierung Außenminister Çavuşoğlu keine Landegenehmigung erteilt hatte. "Der türkische Konsul hat mich einfach glatt angelogen. Er hatte mir zuvor gesagt, im Konsulat ist nichts geplant."

Doch schon ehe sich die Familienministerin wieder unvermittelt auf den Rückweg machen musste, hatten sich an die Tausend Erdoğan-treue Demonstranten vor dem Konsulat in Rotterdam versammelt. Nur mit Wasserwerfern konnten die hartnäckigsten Protestierenden zurückgedrängt werden. "Faschisten, Faschisten", riefen einige den Polizisten entgegen. Gegen drei Uhr Früh und nach teils heftigen Zusammenstößen kehrte wieder Ruhe ein, einige Demonstranten wurden verhaftet.

Bürgermeister Aboutaleb, ein gebürtiger Marokkaner, aber ärgert sich nach wie vor besonders über die Verbalattacken aus Ankara, wonach die Härte der Niederländer gegenüber den Ministern "Faschismus" sei: "Erdoğan vergisst, dass ich der Bürgermeister von Rotterdam bin. Die Stadt wurde von den Nazis bombardiert."

Am Ostersonntag, 16. April, stimmen die Türken über eine umstrittene Verfassungsreform ab, mit der die Macht von Präsident Erdoğan deutlich ausgeweitet werden soll. Da Umfragen ein knappes Rennen vorhersagen, sind die Stimmen der Auslandstürken so wichtig – deshalb die umstrittene Europatour der türkischen Regierung.

Stimmen die Türken für die Reform, wird das parlamentarische System durch ein Präsidialsystem ersetzt – mit weitreichenden Folgen: Erdoğan führt die Regierung, kann Dekrete erlassen, den Ausnahmezustand verhängen, Minister und Spitzenbeamte ernennen und das Parlament auflösen. Er darf wieder einer Partei angehören, erneut Chef der islamisch-konservativen AKP werden und bis 2029 Präsident bleiben.

Erdoğan argumentiert, die Reform werde in unruhigen Zeiten nach dem vereitelten Putsch 2016 für mehr Stabilität sorgen. Die Opposition befürchtet hingegen ein autoritäres System mit Einschränkungen der demokratischen Rechte und Freiheiten. Bereits jetzt seien diese stark beschnitten, nicht zuletzt durch das massive Vorgehen der Behörden gegen mutmaßliche Regierungsgegner und kritische Journalisten.

Der heimische Ableger der türkischen Regierungspartei AKP übt scharfe Kritik an der Verhinderung von Wahlkampfauftritten türkischer Politiker in Europa. Auch in Österreich würden "unsere legalen Veranstaltungen grundlos abgesagt", beklagte die Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD) am Sonntag. Die Saalbesitzer seien "bedroht und erpresst" worden.

In Hörbranz (Vorarlberg), Wiener Neustadt und Herzogenburg (beide NÖ) waren – wie berichtet – Auftritte des AKP-Abgeordneten Muhammet Müfit Aydin und des Ex-Energieministers Taner Yildiz geplatzt.

Die UETD kritisiert ausnehmend scharf, dass "Anhänger der Terrororganisation PKK in ganz Europa anstandslos Veranstaltungen durchführen könnten. Die UETD selbst ruft "die türkische Bevölkerung in Österreich zur Gelassenheit auf". Die "Antwort zu diesen Skandalen" wollen die UETD-Vertreter "bei der Wahlurne mit einem kräftigen Ja geben". Von den Absagen gaben sie sich unbeeindruckt. Aydin: "Egal was sie tun, unsere Brüder in Österreich sagen Ja."

Die in Österreich lebenden Türken gelten als besonders Erdoğan-treu. Bei den Parlamentswahlen 2015 kam die AKP bei ihnen auf 69 Prozent der Stimmen.