Der einst starke Mann vom Bosporus wankt
Von Walter Friedl
Polit-Beben beim EU-Beitrittskandidaten Türkei, wo seit den Weihnachtsfeiertagen nichts mehr so ist, wie es früher war. In einem spektakulären Coup hat Premier Recep Tayyip Erdogan am Christtag zehn seiner 26 Minister ausgetauscht – und sein neues Team wenige Stunden später, am Stefanitag um ein Uhr Früh, zu einer nächtlichen Krisensitzung zusammengetrommelt.
Der Grund: Ein Korruptionsskandal, der das Land seit der Vorwoche erschüttert und sich dem engsten Umfeld des Regierungschefs nähert. Wegen der Staatsaffäre tagte am Donnerstag sogar der Nationale Sicherheitsrat der Türkei.
Die drei Kabinettsmitglieder waren nicht mehr zu halten und reichten am Donnerstag ihre Rücktritte ein. Ein viertes, ebenso im Korruptionssumpf steckendes weigerte sich beharrlich: Der für EU-Fragen zuständige Egemen Bagis, ein treuer Weggefährte Erdogans. Erst nach einer Intervention von Staatspräsident Abdullah Gül musste auch er seinen Sessel räumen.
Im Abgang attackierte Städtebauminister Bayraktar seinen früheren Boss massiv. Der Premier habe bei sämtlichen Projekten, die die Staatsanwaltschaft als kriminell einstuft, alles gewusst und teilweise die Entscheidungen gefällt. Dann wörtlich: „Der Regierungschef hat auch zurückzutreten.“
Er ist nicht der Einzige, der sich jetzt von Erdogan abwendet. In dessen AK-Partei rumort es gewaltig. So hat der frühere Innenminister Idris Naim Sahin, ein Mitbegründer der AKP, die Gruppierung verlassen – aus Protest gegen die offenbar weit verbreitete Bestechlichkeit.
Der Premier selbst denkt aber nicht an Rücktritt und macht ausländische Kreise für die aktuelle Krise verantwortlich. Namentlich die USA und Israel, die die Heimat schwächen wollten. Er appelliert an die Einheit seiner Partei. Zugleich zieht er die Zügel im Polizeiapparat, der die Verhaftungswelle straff abgewickelt hat, stark an. Gut 500 Offiziere, darunter der Polizeichef von Istanbul, wurden durch verlässliche Leute ersetzt, Journalisten wurde der Zutritt zu Dienststellen der Sicherheitskräfte verwehrt.
Der frisch nominierte Innenminister ist zudem ein Hardliner und spielte eine zentrale Rolle bei der brutalen Niederschlagung der Proteste um den Istanbuler Gezi-Park. Und der neue Justizminister soll die Staatsanwälte an die Kandare nehmen. Die lassen sich aber nicht beirren. Angeblich sollen sie 30 weitere Personen im Visier haben – darunter auch Bilal Erdogan, den Sohn des Premiers.
Islamisten-Machtkampf
Der wahre Hintergrund der Polit-Turbulenzen ist ein Machtkampf im islamischen Lager. Der große Gegenspieler heißt Fethullah Gülen, sitzt in den USA und gilt als Drahtzieher der Enthüllungen. Er hat Millionen Anhänger und ein einflussreiches Netzwerk in der Türkei, zu dem hohe AKP-Kader sowie Top-Leute unter den Sicherheitskräften sowie in der Justiz zählen. Lange kämpften Erdogan und der islamische Prediger für die gemeinsame Sache: gegen das türkische Militär und die säkularen Kräfte. Heute sind sie erbitterte Rivalen, wenngleich Gülen jede Verwicklung in die aktuelle Politkrise dementiert.
Das Resümee von Kerem Oktem, Türkei-Experte an der Uni Oxford: „Es sieht so auch, dass die Dinge innerhalb der AKP außer Kontrolle geraten.“
Es war 1999, als die damalige Regierung in Ankara Fethullah Gülen vorwarf, einen islamischen Staat in der Türkei etablieren zu wollen. Seither lebt der Prediger in den USA und zieht von dort seine Fäden – in der ganzen Welt. Seine Millionen Anhänger betreiben Schulen, Krankenhäuser, Unternehmen, Medien. Allein in Deutschland werden 300 Gülen-nahe Vereine vermutet. Das Hauptaugenmerk des heute 72-Jährigen liegt auf Bildung. Es soll eine schlagkräftige islamische Elite herangezogen werden.
In der Türkei kämpften Absolventen der Kaderschmieden erfolgreich Seite an Seite mit Erdogans Mannen, um die Macht der Militärs und der säkularen Kräfte zu brechen – bis es zwischen den Islam-Streitern selbst zum Bruch kam. Gülen-Schüler waren dem Premier zu einflussreich geworden, vor allem im Polizei- und Justizapparat. Wichtige Beamte verloren ihre Posten. Und Mitte Dezember ließ der Regierungschef Nachhilfe-Zentren des in der Osttürkei geborenen Gülen schließen. Das kam einer Kriegserklärung für die Bewegung gleich, da diese Zentren eine wichtige Finanzquelle darstellten.
Dann der Gegenschlag: Gülen zündete die Korruptionsbombe und könnte noch weitere Waffen im Schrank haben.
Für die Gegner eines Beitritts der Türkei ist es eine glückliche Fügung, dass die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan wegen einer Korruptionsaffäre, in die zahlreiche Minister verwickelt sind, in eine schwere Legitimationskrise geraten ist. Die islamische Machtelite des Landes hat zuletzt alles dafür getan, die EU-Annäherung selbst zu hintertreiben.
Erdogan hat mit der Unterdrückung der Protestbewegung, die eine Demokratiebewegung ist, den Weg der gewaltsamen Konfrontation gewählt. Von seinem missionarischen Eifer sind nicht einmal die Schlafzimmer verschont, Frauen empfiehlt er, mindestens drei Kinder zu gebären, Studentinnen schreibt er vor, getrennt von männlichen Kollegen in eigenen Heimen zu wohnen. Haftstrafen gegen Oppositionspolitiker und kritische Journalisten häufen sich. Und der am Anfang von vielen begrüßte „Ergenekon“-Prozess gegen türkische Generäle einer Ära, in der der Putsch ein „normales“ Instrument der Politik war, entwickelte sich zu einem völlig undurchsichtigen Verfahren mit mangelnden Beweisen. Die regierende AK-Partei stand plötzlich selbst in Verdacht, ihren eigenen Staat im Staat zu pflegen.
Und siehe da, wenige Monate später kommt ein Korruptionsskandal ans Tageslicht, der täglich weitere Kreise zieht und auch den wortgewaltigen, selbstbewussten EU-Chefverhandler, Europa-Minister Egemen Bagis, getroffen hat. Er musste zum Rücktritt gezwungen werden.
Die Regierungskrise ist der vorläufige Höhepunkt einer Reihe von innertürkischen Entwicklungen und Positionen, die nicht mit einer europäischen Orientierung und europäischen Standards vereinbar sind.
Seit acht Jahren stocken die Beitrittsverhandlungen; wie ein politisches Placebo erscheint die vor Weihnachten gestartete Initiative, ein weiteres Kapitel zu öffnen und die Verhandlungen über die Visa-Liberalisierung zu starten.
Mehr Demokratie wagen
Ein glaubwürdiger Neuanfang in den Beziehungen zwischen Ankara und Brüssel wären vorgezogene freie und demokratische Wahlen.
Die Bürger hätten dann die Chance, über die politische Ausrichtung der Türkei zu entscheiden: Für oder gegen ein säkulares System, für oder gegen eine Westorientierung, für oder gegen die EU.
Die mutigen Demonstranten, die urbane Mittelschicht zeigt, dass es einen öffentlichen Wunsch nach echter Demokratie, Meinungsfreiheit und einem gerechten Justizwesen gibt. Bei diesen Gruppen und der Opposition liegt die größte Hoffnung für einen Integrationsprozess der Türkei, der in eine Mitgliedschaft mündet. Die europäischen Bremser oder Gegner eines T
Der autoritäre „Sultan“ reagierte so, wie er immer reagiert, wenn er in der Defensive ist: voller Gegenangriff. Nach einer massiven Korruptionsaffäre, in die auch Regierungsmitglieder verwickelt sein sollen, tauschte der türkische Premier Erdogan fast die Hälfte seiner Minister aus und stellte ein „Kriegskabinett“ zusammen. Dieses soll den „Umsturzversuch aus dem Ausland“ niederschlagen, hinter dem die USA und Israels stünden. Das ist natürlich Quatsch.
Das wahre Ringen spielt sich zwischen Erdogan und dem islamischen Prediger Fethullah Gülen ab, der in den USA lebt. Seine Anhänger betreiben in der Türkei Bildungseinrichtungen, Unternehmen, Medienhäuser. Sie haben großen Einfluss auf den Polizei- sowie Justizapparat und den Korruptionsskandal an die Öffentlichkeit gebracht. Das heißt: Ein Machtkampf zweier islamistischer Alpha-Tierchen, die einst Schulter an Schulter gegen die Säkularen und das Militär marschierten und jetzt erbitterte Feinde sind. Damit ist das System Erdogan erstmals ernsthaft bedroht. Seine AK-Regierungspartei droht von innen zu erodieren, erste Austritte gibt es bereits.
Und der (einst) so „starke Mann vom Bosporus“? Der beschwört die Einheit und erinnert an den Unabhängigkeitskampf vor der Staatsgründung 1923. Das wird ihm auch nicht helfen, das Image der AKP als „saubere Kraft“ ist dahin. Erdogan selbst ist es möglicherweise noch länger nicht, denn das Wort aufgeben kennt er nicht. Sollte es noch dicker kommen, könnte der alte Fuchs alles auf eine Karte setzen und Neuwahlen ausrufen (regulär 2015). Kalkül: Die Opposition ist schwach, und ob sich ein zweites islamisches Lager schnell organisieren kann, fraglich.
Wer Erdogan zu früh abschreibt, begeht einen Fehler.