Tschechiens Massen begehren auf
Schon die Anreise zur Demo am Sonntag war kompliziert. „Manche U-Bahnen waren so überfüllt, dass ganze Stationen geschlossen werden mussten“, sagt Tereza Parma, eine 31-jährige Pragerin. „Dann sind wir mit Tausenden Menschen noch 20 Minuten zu Fuß gegangen.“ Das gemeinsame Ziel: die Letná-Ebene.
Am weitläufigen Veranstaltungsort nahe des Prager Zentrums, dröhnen sonst Gitarren bei Konzerten. Am Sonntag ertönten hier allen Hitze-Mühen zum Trotz die Stimmen von 250.000 Menschen. Sie demonstrierten gegen Premier Andrej Babiš. Ihm werden Missbrauch von EU-Subventionen, Interessenskonflikte und Machthunger vorgeworfen.
Seit der Samtenen Revolution 1989 waren in Prag nicht so viele Menschen auf den Beinen. Und auch die damalige Losung Vaclav Havels, „Wahrheit und Liebe müssen Lüge und Hass besiegen“ fand sich 30 Jahre danach wieder auf Transparenten. Symbolisch ist auch die Verlegung der Proteste auf die Letná-Ebene. Auch 1989 waren die Proteste gegen die damals kommunistische Führung vom Wenzelsplatz dorthin verlegt worden. Der Grund damals wie heute: Platzmangel. Die Organisatoren sprechen diesmal von 250.000 Menschen, die Polizei von 200.000. Tschechische Mobilfunkbetreiber (das Netz brach zwischenzeitlich zusammen) gehen sogar von 283.000 Teilnehmern aus.
„Als ich die Menschenmassen gesehen habe, hatte ich Gänsehaut. Ich habe einige Momente gebraucht, um diese Bilder für mich einzuordnen. Es war wie vor 30 Jahren, wie auf Fotos, die ich von früher kenne: Menschen standen auf Balkonen, auf Dächern, sie schwenkten Fahnen, Musiker spielten und hielten Reden über Demokratie. Friedlich, aber bestimmt“, sagt Tereza Parma.
Was die Protestbewegung dabei eint: Keinesfalls will man Zustände wie in Ungarn, oder Polen hinnehmen.
EU-Gelder missbraucht
Auslöser der Proteste war der überraschende Rücktritt von Justizminister Jan Knezinek und der Ernennung seiner Nachfolgerin Marie Benesova Ende April. Zeitlich fiel die Rochade im Justizressort mit der Empfehlung der Ermittlungsbehörden zusammen, in der sogenannten „Storchennest-Affäre“ Anklage gegen Babiš zu erheben. Storchennest wird ein Luxusressort von Babiš genannt, für dessen Errichtung der Premier EU-Gelder missbraucht haben soll. Babiš weist alle Vorwürfe zurück.
Organisiert werden die Proteste dabei vom Verein „Milion chvilek pro demokracii“ (Millionen Augenblicke für die Demokratie). Und die historischen Anknüpfungspunkte an die 30 Jahre zurückliegende Revolution von 1989 waren von Anfang an spürbar. Anfangs demonstrierten einige Tausend – dann wurden es mehr. Waren die Proteste anfangs ein urbanes Phänomen, so haben sie um sich gegriffen. Mit rund 90 Bussen kamen am Sonntag Menschen aus allen Ecken Tschechiens nach Prag.
Spaltung
Seit die Bewegung vor zwei Monaten gestartet hat, waren Tereza Parma, ihr Mann und ihr dreijähriger Sohn Viktor regelmäßig auf den Demos. Der Kleine auf den Schultern des Vaters, mit Trillerpfeife im Mund. Vergangenen Sonntag sollte er bei der Schwiegermutter bleiben. „Kommt nicht infrage“, sagte diese – die Seniorin wollte mit demonstrieren.
Auch viele ältere Demonstranten
Der Fotograf Stanislav Honzík war am Sonntag das erste Mal dabei: „Bei der Demo wurde mir klar, wie viele wir wirklich sind, die keinen Lügner und Manipulator an der Macht haben wollen. Ich war auch überrascht davon, dass sehr viele Ältere da waren – also eigentlich die Gruppe, die Babiš wählt.“ Weitere Proteste wünscht sich Honzík aber nicht. „Ich will, dass wir Politiker haben, die das Land und die Leute verbinden.“ Er sagt: „Ich glaube nicht, dass die Proteste auf politischer Ebene etwas ändern werden.“ Und er befürchtet eine Spaltung der Gesellschaft. Was er zugleich mit Sorge sieht: Babiš lache die Massen aus und verhöhne sie.
Babiš nannte die Demo abfällig „unglaublich“. Die Protestbewegung beflegelte er als „bunte Strömung“, die ihn ins Zuchthaus und Präsident Zeman in den Sarg schicken wolle. Babiš und Zeman sind Verbündete.
Wie sehr der Konflikt das Land aber bereits spaltet, konnte Tereza Parma am Rückweg von der Demo beobachten. Ein kleiner Bub hatte Pommes, ihr dreijähriger Viktor wollte daraufhin ebenfalls welche. Der Vater des Kindes mit den Pommes lehnte sich zu Tereza herüber und sagte: „Ihr kommt auch von der Demo? Dann teilen wir die Pommes mit euch.“