Politik/Ausland

Orban stellt "zivilisatorischen Grundkonsens infrage"

Wir erklären die unveräußerliche Würde jedes menschlichen Wesens vom Beginn und in jeder Phase seiner Existenz", lautet der erste Satz unter der Überschrift "Werte" im Parteiprogramm der Europäischen Volkspartei. Dass jetzt ein Staatschef aus ihrer Mitte laut über die Wiedereinführung der Todesstrafe in seinem Land nachdenkt, steht im krassen Widerspruch zu diesen gemeinsamen Werten der Christdemokraten.

In der EVP hat man sich in den vergangenen Jahren daran gewöhnen müssen, dass Viktor Orban immer wieder rechtsaußen abseits steht. Wenn es etwa um umstrittene Gesetze in Ungarn ging, die Orban regelmäßig erst nach viel Druck aus Brüssel wieder ändern ließ. Oder als vor einem Jahr alle EVP-Regierungschefs hinter der Wahl von Jean-Claude Juncker zum Kommissionschef standen – außer eben Orban, der den Luxemburger konsequent ablehnte.

"Jetzt aber haben wir eine neue Dimension erreicht, weil es um die Grundwerte der EU geht", sagt ein Brüsseler Christdemokrat zum KURIER.

Orban sagte am Dienstag, man müsse "die Todesstrafe auf der Tagesordnung behalten". Er verwies auf einen kürzlich erfolgten Mord an einer jungen Trafikantin – und merkte an, dass die von seiner Regierung durchgesetzte Verschärfung des Strafrechts offenbar nicht abschreckend genug wirke. Ergo müsse man eben auch über die Todesstrafe, die Ungarn 1990 abgeschafft hat, nachdenken. Bereits 2002 hatte Orban nach einem brutalen Raubmord mit acht Toten in einer Bank gemeint, Ungarn müsse sich die Wiedereinführung der Todesstrafe "ernsthaft überlegen".

Seine jüngsten Äußerungen haben für einen Aufschrei in Brüssel gesorgt: "Wer die Todesstrafe nicht ablehnt, stellt eine historische Errungenschaft und einen zivilisatorischen Grundkonsens Europas infrage", sagt ÖVP-Delegationsleiter Othmar Karas. Auch EVP-Fraktionschef Manfred Weber betont, die Todesstrafe sei in der EU "nicht verhandelbar": "Auch wenn es viele emotionale Situationen gibt, die ungemein schmerzen: Die Todesstrafe kann darauf weder Antwort sein noch eine Lösung."

Heftige Kritik kommt von den Sozialdemokraten: "Weiß die EVP überhaupt, welchen Politiker sie in ihren Reihen hat?", fragt SPÖ-Mandatar Josef Weidenholzer. Und Parlamentspräsident Martin Schulz hat am Mittwoch im Büro des Premiers um ein "klärendes Gespräch" gebeten.

"Geste an Jobbik"

Orban dürfte rein aus innenpolitischem Kalkül handeln; er versucht offenbar, der rechtsextremen Jobbik rechtsaußen möglichst wenig Platz zu lassen. Die ungarische Opposition wirft ihm vor, er habe Jobbik "eine Geste erweisen wollen".

Doch auch wenn Orban wohl nicht ernsthaft an eine Wiedereinführung der Todesstrafe denkt, fordern einflussreiche EVP-Mitglieder – bislang intern – eine eindeutige Klärung: Entweder durch eine Distanzierung Orbans von der Todesstrafe – oder durch einen Rausschmiss der Fidesz aus Partei und Fraktion. ÖVP-Mandatar Karas hat bereits mit Parteichef Joseph Daul ein Gespräch über Orban geführt.

Ein Bruch mit Orban würde die Macht der EVP im EU-Parlament schwächen: zwölf der 219 EVP-Abgeordneten kommen aus Ungarn; die Sozialdemokraten halten bei 190.