Soziale Revolte unter dem Zuckerhut
Von Walter Friedl
Ich lasse die (Fußball-)WM nächstes Jahr sausen und will mehr Geld für Gesundheit und Bildung“, skandierten die Teilnehmer der Riesen-Demonstration am Montag in der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro. 100.000 waren gekommen, um gegen die explodierenden Kosten für den sportlichen Top-Event zu protestieren (elf Milliarden Euro) – während sich Millionen Brasilianer die gestiegenen Preise für Transport- und Lebensmittel sowie für Wohnen kaum noch leisten können und mehr Geld für Soziales fordern.
„Kokosnuss-Revolte“
Denn der vorangegangene Wirtschaftsboom hatte auch seine Schattenseiten. Die durchschnittlichen Hauspreise stiegen in Rio um 165 Prozent, rechnete die UNO vor. Sogar in den „Favelas“, den Armenvierteln, können sich viele die Mieten nicht mehr leisten. In Rios bekanntestem Slum, in Rocinha, muss man für eine Zwei-Zimmer-Bleibe monatlich schon 900 Reais (rund 310 Euro) hinblättern – das ist das Doppelte im Vergleich zum Vorjahr. Auch die Lebensmittelpreise schnellten empor: Bis Mai stiegen sie um 13 Prozent. Zugleich sind, makro-ökonomisch betrachtet, die fetten Jahre vorbei: Die Volksökonomie der Wirtschaftslokomotive Südamerikas, die zuvor noch um sieben Prozent und mehr pro Jahr gewachsen war, konnte 2012 nur noch ein Plus von 0,9 Prozent verbuchen.
Zwangsumsiedlungen
Die Regierung hatte zwar mit milliardenschweren Sozialprogrammen 22 Millionen Brasilianer aus der schlimmsten Armut geholt, doch noch immer darben Millionen in elenden Verhältnissen. Und viele von ihnen zahlen den Preis für die anstehenden Großereignisse – den Confed Cup, die Fußball-WM und die Olympischen Spiele 2016.
Der Brasilianer schießt sich auch auf den Weltfußballverband FIFA ein. „Die diktieren uns alles. Dadurch profitieren von den zahlreichen Um- und Neubauten vor allem ausländische Unternehmen. Empörend finde ich zudem, dass die Straßenverkäufer, die das Einkommen ihrer Familien aufbessern, ihre Produkte in einem Umkreis von zwei Kilometern um die Stadien nicht anbieten dürfen.“
Vom Hoffnungsträger zum Krisenkandidat: Brasilien treibt Ökonomen die Sorgenfalten auf die Stirn. Großveranstaltungen wie Fußball-Weltmeisterschaft und Olympische Spiele sollten den Aufschwung zum Selbstläufer machen. Doch die Realität sieht anders aus: Das Wachstum schwächelt, die Inflation läuft aus dem Ruder, Reformen bleiben auf der Strecke und die Staatsschulden steigen. Die Landeswährung Real ist zuletzt auf den tiefsten Stand seit vier Jahren gefallen.
Der jüngste Abwärtstrend treffe einen Nerv, sagt Citigroup-Experte Nicolas Riva: "Die historische Betrachtung zeigt, dass Investoren bei einer schwächelnden Währung aus Brasilien fliehen". Betroffen seien Devisen, Aktien und Direktinvestitionen. "Wir haben dies bereits 1999, 2002 und 2008 gesehen." Insgesamt sei die Lage an der Währungsfront zwar noch nicht als besonders kritisch zu bewerten, doch wegen der hohen Inflation gebe es durchaus ein Problem.
Bonitätsnote "BBB"
Der Ratingriese Standard & Poor's (S&P) hat Brasilien bereits angezählt und den Ausblick für die Kreditwürdigkeit von "stabil" auf "negativ" gesenkt. Die Bonitätsnote liegt bei "BBB". Diese Bewertung liegt zwei Stufen über dem sogenannten Ramsch-Niveau, mit dem spekulative Anlagen gekennzeichnet werden. Die Agentur moniert vor allem "das anhaltend schleppende Wachstum", nennt aber auch die kletternden Staatsschulden als Grund für die gestiegene Skepsis. Nachdem Brasiliens Wirtschaftsleistung 2010 noch um 7,5 Prozent gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) zulegen konnte, sank das Plus 2011 auf 2,7 Prozent und 2012 auf magere 0,9 Prozent.
Boom bleibt aus
Für dieses Jahr hatten viele Analysten einen Aufschwung erwartet. Brasilien ist als Gastgeber der Fußball-WM 2014 und der Olympiade 2016 eigentlich als Boomland eingeplant gewesen. Doch hausgemachte Probleme wie bürokratische Hürden, komplizierte Steuergesetze und staatliche Interventionen schrecken Investoren ab. Hinzu kommt die schwächelnde Nachfrage aus dem Ausland, allen voran der schwindende Rohstoffhunger des wichtigen Handelspartners China.
In den ersten drei Monaten ist die Wirtschaft nur um 1,9 Prozent zum Vorjahr und damit deutlich weniger als erwartet gewachsen. Die ursprünglichen Wachstumsprognosen für 2013 von etwa vier Prozent haben die Volkswirte längst wieder einkassiert und rechnen nun im Schnitt mit 2,5 Prozent. Niedrige Erwartungen zu unterbieten, sei für die brasilianische Wirtschaft mittlerweile zur Gewohnheit geworden, frotzelt der britische "Economist".
Experten mahnen überfällige Strukturreformen an - die Regierung habe zu lange auf den Konsum gesetzt. Nun sei es schwierig, den niedrigen Real zu nutzen, um sich aus der Wachstumsschwäche zu exportieren. Den Ausputzerjob hat die Notenbank: Sie muss den Spagat schaffen, die Inflation im Zaum zu halten, ohne den stotternden Wirtschaftsmotor abzuwürgen.