Politik/Ausland

Schärfere Alkohol-Regeln empören viele Türken

Am Anfang stand eine Brand-Rede des türkischen Premiers Recep Tayyip Erdogan in Istanbul bei einer Konferenz gegen den Alkoholkonsum Ende April. Dort wetterte der Total-Abstinenzler gegen Bier, Wein und Co. Nicht Raki, der weit verbreitete Anisschnaps also, der einst die Leber von Staatsgründer Atatürk zerfressen hatte, sei das Nationalgetränk, sondern Ayran – der salzhaltige Joghurt-Drink.

In der Vorwoche wurde nun diese „Promille-Politik“ der Regierungspartei AKP in einen Gesetzestext gegossen: Die Alkohol-Vorschriften wurden landesweit verschärft. So dürfen Läden zwischen 22.00 und 6.00 Uhr keinen Alkohol mehr verkaufen. Auch ein Umkreis von 100 Metern um Moscheen und Schulen wird komplett trockengelegt. Zudem wird Werbung für Alkoholika massiv eingeschränkt. Deren Hersteller dürfen künftig auch keine Festivals oder andere Großveranstaltungen sponsern.

„Fadenscheinig“

In liberalen Kreisen gehen die Wogen hoch. Für sie stellen die Neuerungen einen weiteren Schritt Richtung Islamisierung der Türkei dar. Die Regierung, die zuletzt 3,24 Milliarden Euro aus Steuern auf Alkohol verteilen konnte, verweist auf die Volksgesundheit und auf ähnliche Restriktionen in skandinavischen Ländern.

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Für Cengis Günay, der Politologe mit türkischen Wurzeln ist für das „Österreichische Institut für Internationale Politik“ tätig, sind diese Argumente „fadenscheinig“: „In Wahrheit ist Erdogan bei seiner eigenen Klientel unter Druck. Die Wirtschaft brummt zwar, aber damit wird auch gleichzeitig alles teurer. Und das spürt die Basis.“ Zudem werde immer sichtbarer, dass bestimmte AKP-Eliten extrem profitiert hätten und sehr reich geworden seien, während die Masse weit weniger abbekommen habe. „Es rumort gewaltig“, sagt Günay zum KURIER.

Signal an AKP-Basis

Viele, vor allem die einfachen religiösen Menschen fragten sich, so der Türkei-Experte, was aus den ursprünglichen Werten und Zielen der Partei geworden sei. Der strikt neoliberale Wirtschaftskurs werde immer öfter kritisiert.

Mit Initiativen wie der restriktiven Alkohol-Gesetzgebung wolle die AKP diese offene Flanke besser abdecken. Zumal auch die Kurden-Politik Erdogans – der Dialog zur Konfliktlösung mit der aufständischen PKK-Guerilla ist sehr weit fortgeschritten – in den eigenen Reihen ebenso umstritten ist wie die rigorose Anti-Assad-Haltung der Regierung im überschwappenden Syrien-Krieg.

Auch auf Gemeindeebene setzt die Erdogan-Partei Signale für islamisch-konservative Wähler. In der AKP-verwalteten Hauptstadt Ankara wurden die Benützer öffentlicher Verkehrsmittel jüngst aufgefordert, „die moralischen Gesetze“ zu beachten.

„Kuss-Demo“

Als Protest gegen diese Durchsagen versammelten sich vergangenes Wochenende mehrere Dutzend junge Paare in einer U-Bahnstation zu einem „Kiss-in“. Einige Teilnehmer der „Kuss-Demo“ wurden später von aufgebrachten Islamisten attackiert.

Die Gegner der islamischen AK-Regierungspartei mit ihrem Chef, Premier Tayyip Erdogan, wollten es immer schon gewusst haben: Die Gruppierung verfolge eine „hidden agenda“ (versteckte Strategie), deren Ziel die Islamisierung der Türkei sei.

Das ist Nonsens. Die AKP ist eine konservativ ausgerichtete Partei mit einer religiösen Basis und einer stark wirtschaftsliberalen Komponente. Sie will die Gesellschaft in diesem Sinne umgestalten, ein System wie im Iran oder Saudi-Arabien strebt sie aber nicht an. Das wäre realpolitisch gar nicht möglich: Junge Frauen werden sich ihre Miniröcke und High Heels nie mehr nehmen lassen, Burschen nicht ihr Efes-Bier und den Raki.

Insofern sind die neuen restriktiven Alkoholgesetze mehr als entbehrlich – zumal die Türkei kein Land der Säufer ist (in Österreich ist der Alkoholkonsum pro Kopf acht Mal höher). In Wahrheit zielen diese Signale – auch die stets wiederkehrende Kopftuch-Debatte – darauf ab, die AKP-Basis bei der Stange zu halten.

Das ist innenpolitisch nachvollziehbar, doch Erdogan begibt sich dabei auf dünnes Eis. Einerseits könnte er die tatsächlich radikalen Geister, die er ruft, schwer wieder loswerden. Andererseits droht er selbst, im islamistischen Eck zu landen. Dort wäre sein politischer Handlungsraum, vor allem auf dem internationalen Parkett, aber äußerst begrenzt.

Die absolut regierende AKP hat die Türkei seit 2002 ökonomisch in lichte Höhen geführt, und der Premier ist auf dem Weg zu einem „global player“. Er wäre gut beraten, das bisher Erreichte nicht mit einer billigen Promille-Politik aufs Spiel zu setzen.