Frankreich: Bussi, Bussi vor Fabrikstor
Von Danny Leder
Auf der Zufahrt vor dem Fabriksgelände des Spezialglas-Herstellers „Holophane“ gibt es großes Hallo und Bussi-Bussi. Für Christophe Delacour, Gemeinderat des „Front National“ (FN) in der Kleinstadt Les Andelys, in der Normandie, ist der Wahlkampfauftritt bei Schichtwechsel ein Heimspiel.
Hat doch Delacour soeben – er arbeitet bei „Holophane“ als Qualitäts-Kontrolleur – ausgecheckt. Jetzt steht er draußen, neben seiner Frau und zwei weiteren FN-Aktivisten, die ein Tischchen mit Wahlplakaten für Marine Le Pen aufgebaut haben.
„Marine wird die Arbeit wirklich belohnen und die Kaufkraft der Franzosen erhöhen“, heißt es auf den Flyern, die Delacour verteilt. Nur wenige verweigern die Annahme. Einige murren, sie hätten „genug von den Politikern“, eine Gruppe junger Arbeiter marschiert abweisend vorüber, einer ruft: „Marine“, und die anderen brechen in höhnisches Gelächter aus. Etwas abseits deklariert sich der Rufer als Anhänger des Linkstribuns Jean-Luc Melenchon.
„Sie halten uns für Sandler“
Aber etliche freuen sich über das Treffen mit Delacour und seiner Frau, mit einigen gibt es die ortsübliche „Bise“ (Umarmung mit Küsschen auf beide Wangen). Der drahtige 44 jährige Delacour hat für alle ein einehmendes Lächeln und ein offenes Ohr. Eine weißhaarige Dame beschwert sich, sie habe die letzten sieben Jahre in der Fabrik verbracht, aber ihr wurde, als Leiharbeiterin eines Stellenbüros, bei Pensionsantritt keine Abgangsprämie gewährt – und Delacour setzt mit einer eigenen Story nach: „Von einem Kollegen wollten sie (die Firmenleitung), dass er ein Monat später in die Rente geht, weil sie nicht gleich einen Ersatz für ihn hatten. Und als Vergütung haben sie ihm ein Abendessen angeboten. Die halten uns für Sandler“.
Freilich würde auch Le Pen an derartigen Entscheidungen privater Firmeneigner „nichts ändern können“, bedauert Delacour im Gespräch mit dem Kurier. Er selber sei mit seiner Arbeit und Entlohnung durchaus zufrieden. Aber insgesamt sorge er sich für Frankreichs Industrie, sofern sie in der EU bleibe: „Der Freihandel bringt nichts Gutes. Ein Kollege war in Rumänien und hat erzählt, dort gibt es noch in den Stadtzentren Pferde-Fuhrwerke. Der Verdienst ist fünfmal niedriger. Da ist doch klar, dass unsere Fabriken und Jobs abwandern. Und dann müssen wir noch diese Länder subventionieren.“
Ärgernis Pony-Kurse
Eine Werkskollegin meint: „Ich habe Kinder, ich mache mir Sorgen um ihre Zukunft, weil in Frankreich vor allem die Migranten unterstützt werden.“ Bei dem Thema kommt Delacour in Fahrt, vor allem wenn man das Pech hat, auf die weit verbreitete Armut in den Familien mit arabischen und afrikanischen Migrationshintergrund zu verweisen: „Armut hat keine Hautfarbe! Eine meiner Großmütter muss nach 40 Jahren Arbeit mit 700 Euro Rente auskommen. Eine Cousine, deren Mann plötzlich gestorben ist, steht mit ihren drei Kindern mittellos da. Am Sozialamt wurde sie mit einem Lebensmittelgutschein abgespeist. Aber ich habe selber gesehen, wie ein Afrikaner von der Familienbeihilfe einen Möbelgutschein in der Höhe von 1169 Euro bekommen hat. Für Häftlinge, Ausländer, finanziert die Regionalverwaltung Pony-Reitkurse. Aber wenn Eltern sich für ihre Schulkinder Pony-Kurse wünschen, und sie sich nicht leisten können, sagt man ihnen: wir können für sie nichts machen, ihre Familie kann ihnen ja helfen. Jede Woche muss ich mich für Rentner einsetzen, denen die Zwangsräumung oder eine Pfändung droht. Zuerst müsste man mehr für unsere Leuten machen. Aber es geschieht das Gegenteil.“
Die Frau von Delacour, Fabienne, glaubt, die Gemeinde hätte für „polygame afrikanische Familien“ in einer nahen Sozialbau-Siedlung „Unsummen“ ausgeben. Die Migranten hätten dort durch nächtlichen Lärm die übrigen Bewohner – „Frühaufsteher, die zur Arbeit müssen“ – vertrieben.
Aus dieser Siedlung kommt der 23 jährige Ibrahim Dibassi. Der Jus- und Wirtschaftsstudent, dessen Eltern aus Mali eingewandert sind, engagierte sich ursprünglich bei den Sozialisten. Jetzt ist er Mitbegründer der örtlichen Bewegung des Zentrumskandidaten Emmanuel Macron, die pragmatische Linke und moderate Bürgerliche vereint.
Gemütliche Sozialbau-Siedlung
Besucht man mit Dibassi die Siedlung, wirkt sie eher gemütlich: es handelt sich um mehrstöckige, quadratische Bauten, die auf einem grünen Hang liegen. Zwei Gebäude stehen leer und sollen abgerissen werden, ansonsten aber erscheint die Anlage nicht ungepflegt.
Frauen und Männer, sichtlich ohne Migrationshintergrund, führen ihre Hunde aus. Jogger auch aus anderen Vierteln ziehen hier ihre Runden und winken Dibassi zu („Das ist mein Sportverein“, sagt Dibassi). Schwarze Jugendliche grüßen höflich im Vorbeigehen.
„Früher gab es wirklich viele Drogendealer und herumlungernde Burschen. Aber das hat klar abgenommen, die meisten hier haben inzwischen begriffen, wie wichtig Schule und Weiterbildung sind“, behauptet Dibassi. „Auch mit der Polizei kommen wir gut aus, die kennen die paar Problemfälle, und belästigen daher nicht die anderen.“
Dibassi wählte in der Mittelschule als zweite Fremdsprache Deutsch (was von Familien aus gehobenen Schichten als selektiver Kursus bevorzugt wird), machte ein Praktikum beim „Credit agricole“ (entspricht der Raiffeisen-Bank in Österreich) und möchte Vermögensverwalter oder Notar werden. Während der Sommerferien jobbte er in der Fabrik, in der Delacour arbeitet: „Mein Vater war dort angestellt und Monsieur Delacour hat sich nach ihm erkundigt“.
„Marine wird aufräumen“
Aber Dibassi misstraut der Umgänglichkeit der FN-Politiker. „Die verstellen sich, um an die Macht zu gelangen. Ihre Anhänger werden aber immer unverschämter. Erst unlängst, als ich Flyer verteilte, hat mir ein Passant direkt in die Augen geschaut und gesagt, es ist höchste Zeit, dass Marine aufräumt. Manchmal sehe ich in den Blicken von Leuten derartig viel Hass, dass ich ihnen lieber keinen Flyer reiche“.
Davon will sich Dibassi aber nicht entmutigen lassen. Er glaubt, dass die heraufziehende „digitale Welt voll von neuen, zukunftsträchtigen Jobs“ sei. Es ginge nur darum, „überkommene Konfliktstellungen zwischen links und rechts, Gewerkschaften und Unternehmern, zu überwinden“ Dafür stehe Macron.
Das motiviert auch den 33 jährigen Nicolas Verité, der mit Dibassi von der SP zur Bewegung von Macron wechselte. Er ist Industriezeichner, arbeitet in einem Planungsbüro und will demnächst mit seiner Gefährtin eine so genannte „Katzenbar“ eröffnen (ein Kaffee, in dem die Gäste von Katzen umgeben sein werden, die ursprünglich ausgesetzt wurden und von Verité und seiner Freundin aufgelesen und versorgt werden). Verité meint: „In Frankreich haben Unternehmer wegen der Kündigungsvorschriften Angst, Arbeitskräfte einzustellen, und Arbeitnehmer Angst, einen Jobwechsel zu riskieren. Macron will mit seinen Reformen diese lähmende Furcht bekämpfen.“
Angst vor „Uberisierung“
Einstweilen ist die Angst aber allgegenwärtig. Ein Hotelier, der zum konservativen Kandidaten Francois Fillon neigt, klagt: „Wir leiden bereits unter der Konkurrenz der Zimmer-Vermieter, die Sozialabgaben umgehen. Macron vertritt diese ganze Uberisierung (ein in Frankreich geläufiger Begriff für neue Unternehmensformen, die die Gewerberegeln und die Sozialgesetzgebung unterlaufen, abgeleitet vom Billigtaxi-Anbieter „Uber“).“ Die bevorstehenden Präsidentschafts-Wahlen werden nicht zuletzt darüber Auskunft geben, ob in Frankreich die Wagnis-Bereitschaft und oder das Bedürfnis nach mehr Sicherheit überwiegt.