Politik/Ausland

Prager Frühling 1968: „Ganze Welt lässt uns im Stich“

Ich hoffe, Sie haben eine Waffe eingesteckt“, spricht mich ein Flugbegleiter auf der Strecke Athen-Prag leise an. „Warum sollte ich“, antworte ich etwas perplex. „Um Ihr Land zu verteidigen“, insistiert der Mann. „Die Russen werden bei euch einmarschieren.“ „Unsinn“, gebe ich mich zuversichtlich. „Warum sollten sie? Wir wollen doch keinen Regimewechsel, nur ein bisschen Liberalisierung – wie die neue Reisefreiheit: Nur durch sie durfte ich jetzt nach Griechenland fliegen.“

 

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Es ist der 1. August 1968. In der Tschechoslowakei hat die Führung der Kommunistischen Partei Demokratisierungsschritte eingeleitet, die als „Prager Frühling“ in die Geschichte eingehen sollten. Die Welt beobachtet mit einer Mischung aus Faszination und Zweifel, wie die Tschechen und Slowaken den Kommunismus zu reformieren versuchen. KP-Chef Alexander Dubček verkündet einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ und versetzt die Bevölkerung in einen Rauschzustand der Begeisterung. „Die Reformen gelingen. Wir werden freier leben!“

Sowjetische Propaganda

Drei Wochen später, in der Nacht auf den 21. August, platzt der Traum. In Bratislava ist es brütend heiß. Alle Fenster stehen offen. Plötzlich zerreißen Fluglärm und das Rattern von Schwerfahrzeugen die Stille. Ich schrecke auf, schalte sofort das Radio ein. Smetanas „Moldau“ ertönt, für Tschechen und Slowaken eine Art Schicksalssymphonie. Dann verliest ein Sprecher eine Erklärung des Zentralkomitees: „Heute Nacht haben fünf Armeen des Warschauer Paktes – die sowjetische, polnische, ungarische, bulgarische und die der DDR – die Grenze zur ČSSR überschritten, ohne Wissen der tschechoslowakischen Organe.“ Die Bevölkerung möge Ruhe bewahren und keinen Widerstand leisten.

Also doch eine Invasion! Ohne zu zögern, setze ich mich in den elterlichen Škoda und rase in die Innenstadt. Intuitiv parke ich in einer Seitenstraße. Eine richtige Entscheidung, die Autos entlang der Hauptstraßen werden von den einrollenden Panzern einfach plattgedrückt.

Die Kolonne von der Donau-Brücke bis zur strategisch wichtigen Burg scheint endlos. Auf ihrem Weg besetzen die Russen das Rundfunkgebäude und beginnen, Sendungen auf Slowakisch auszustrahlen. In vorbereiteten Texten ist von brüderlicher Hilfe bei der Niederschlagung der Konterrevolution die Rede. Doch der russische Akzent der Sprecher macht die Kreml-Propaganda leicht durchschaubar.

Widerstand mit Kompottgläsern

Im nächtlichen Bratislava füllen sich die Straßen. Einige Barbesucher denken im ersten Moment an Filmaufnahmen. Aktiven Widerstand leisten nur die Patienten des Spitals am ehemaligen Stalin-Platz. Sie bewerfen die Okkupanten aus den Fenstern mit Kompottgläsern.

Manche meiner Freundinnen werden von ihren Eltern eingesperrt – die Erfahrungen mit der Roten Armee von 1945 sind noch zu frisch. Ältere Stadtbewohner stellen sich sofort vor den Lebensmittelgeschäften an, um zu hamstern.

Um 8 Uhr früh ist die „Operation Donau“ beendet. 500.000 Mann haben alle wichtigen Orte der ČSSR unter ihrer Kontrolle. Die Kasernen der tschechoslowakischen Armee sind umzingelt. Doch es formiert sich ziviler Widerstand. „Lenin, wach auf, Breschnew ist verrückt geworden!“, ist auf Hausmauern zu lesen. „Iwan, geh nach Hause, Natascha wartet auf dich“, heißt es in einem spontan geschriebenen Schlager. Der Versuch, eine Kollaborateur-Regierung einzusetzen, scheitert. Radiosender aus dem Untergrund informieren noch einige Stunden lang.

Wir alle drücken uns kleine Transistorgeräte ans Ohr. Obwohl die ersten Schüsse in der Nähe der Universität gefallen sind und ich mich in dem Viertel befinde, habe ich keine Angst. Ich empfinde nur Wut, Wut, Wut. In der Pravda-Druckerei drucken wir heimlich Flugblätter, die am Land verteilt werden.

Russen wissen gar nicht, wo sie sind

Die meisten von uns sind des Russischen halbwegs mächtig, so versuchen wir die Soldaten zu überzeugen, dass bei uns keine Konterrevolution im Gange ist. Manche der Männer sind überfordert, sie wissen gar nicht recht, im welchen Land sie sind. Sie sind seit Wochen unterwegs, haben in Ungarn und Polen Manöver abgehalten.

„Jetzt kann uns nur noch der Westen helfen“, ist unsere letzte Hoffnung. Der Eiserne Vorhang liegt nur vier Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. In Bratislava und Umgebung sind fast alle treue Hörer und Seher des ORF. Endlich tritt der österreichische Bundeskanzler Josef Klaus im Trachtenanzug vor die Kamera. Er bleibt vorsichtig und verurteilt die Invasion nicht. Klaus spricht von „Ereignissen in der ČSSR“, betont die Neutralität Österreichs und beruhigt seine Landsleute. US-Präsident Lyndon B. Johnson unterbricht nicht einmal seinen Urlaub. Er soll im Vorfeld von den Russen informiert worden sein. Seine Reaktion: „Das ist eure Sache.“

Der Einmarsch wird im Westen als innere Angelegenheit des Sowjetblocks betrachtet. Wir sind entsetzt: „Die ganze Welt lässt uns im Stich!“ Umso mehr rücken wir zusammen. Es herrschen beispielhafte Solidarität und Hilfsbereitschaft, die Versorgung funktioniert, nichts wird gestohlen. Tschechen und Slowaken stehen praktisch geschlossen hinter ihrer Staatsführung. Wären damals Wahlen abgehalten worden, die KP hätte haushoch gewonnen. Doch Alexander Dubček , der Regierungschef, und der Parlamentspräsident werden in Prag verhaftet und nach Moskau verschleppt.

Resignation

Lange wissen wir nicht, ob sie noch am Leben sind. Nach zehn Tagen kehren Dubček und seine Begleiter in zerknitterten Anzügen nach Prag zurück. Die Männer wirken um Jahre gealtert. Dubček kündigt mit gebrochener Stimme die „provisorische Stationierung“ der Sowjettruppen in der ČSSR an. Die Stimmung im Volk kippt, tiefe Hoffnungslosigkeit macht sich breit.

In der österreichischen Vertretung in Prag stempelt Botschafter Rudolf Kirchschläger persönlich und gegen die ausdrückliche Weisung aus Wien Einreise-Visa in die Pässe der Fluchtwilligen. Für seine Zivilcourage wird er später vom EU-Parlament geehrt.

Das Straßenbild von Bratislava verändert sich, bekannte Gesichter verschwinden. „Hat sich nach Wien abgesetzt“, heißt es dann auf Nachfrage. Mir ist bewusst: Die Reisefreiheit, die ich noch vor wenigen Wochen gegenüber dem Flugbegleiter gelobt habe, wird verschwinden. Die Grenzbalken werden bleiern fallen.

Es ist die Zeit für existenzielle Entscheidungen. Am 20. November 1968 besteige ich mit nur einem Koffer und ohne Rückfahrkarte den Bus nach Wien. Die Frage, ob ich meine Liebsten in Bratislava je wiedersehen werde, lasse ich erst gar nicht zu.