Brüchige Einheit nach dem Terror von Paris
Von Antonia Rados
Für jedes europäische Land wären drei Tage anhaltender Terror mit 21 Toten ein nationales Drama. Für Frankreich ist es ein "Super-GAU", ein größtmöglicher politischer "Unfall": Terror im Namen der Religion! Worte, die Frankreich an all das erinnern, was es vergessen und verdrängen will: Die "muslimische" Minderheit, die zusammengepfercht in den Vororten aller Großstädte lebt.
Nicht zufällig Heimat der drei Attentäter, die im Namen des Islam mordeten. Die nicht aufgearbeitete Kolonialzeit in Nordafrika. Von dort stammen die meisten Muslime. Die "fremde" Religion im eigenen Land, die man seit Jahren versucht, unter Kontrolle zu bringen mit Gesetzen wie Kopftuch- und Burkaverbot.
Strikt laizistisch
Für die meisten Franzosen ist allein diese ständige Beschäftigung mit der Religion ein Albtraum. Etwas, das man auf dem Friedhof der Geschichte begraben hat, weil zu altmodisch. Religion! Glaube! Niemand will das im Land der Revolution hören, wo Pfaffen auf dem Platz de la Concorde unter das Fallbeil gestellt wurden.
Die Revolution war vor mehr als 200 Jahren, 1789. Sie lebt unverändert fort. Keiner meiner Pariser Freunde hat jemals eine Kirche von innen gesehen, außer bei Zeremonien wie Hochzeiten. Jeder findet es normal, dass es in Frankreich verboten ist, bei Umfragen nach dem religiösen Bekenntnis zu fragen. Dass in der Schule gelehrt wird, wie eine Zeitung jetzt schreibt, "die Gesetze des Menschen stehen über denen der Götter". Kopftuch, Kippa oder Schleier zu tragen, ist seit zehn Jahren in der Unterstufe strengstens verboten. Der Vollkörper-Schleier in der Öffentlichkeit ist seit 2011 strafbar.
In den Herzen der Franzosen ist die Abscheu, um nicht zu sagen der Hass auf alle Religionen eingebrannt, als wäre die letzte Hinrichtung erst gestern geschehen. Wenn Papst Franziskus nach der neuerlichen Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen zum Respekt vor Religionen auffordert, kann man davon ausgehen, Frankreich fühlt sich nicht betroffen.
Nicht zufällig zeigen die Karikaturen in der Satire-Zeitung Charlie Hebdo vor allem Papst und Prophet. Das sind die Lieblingsfeinde der Zeichner. Den Rest ihrer Boshaftigkeit reserviert Charlie Hebdo dem rechtsgerichteten "Front National", zweites dankbares Feindbild. Insofern waren die Karikaturen über den Propheten Mohammed für Charlie Hebdo-Leser ohnehin nichts Ungewöhnliches. Man liebt es, sich lustig zu machen über Leute, die an Himmel und Hölle glauben. Ausgerechnet in so einem Land lebt heute die größte muslimische Minderheit Europas, drei bis vier Millionen Menschen, wobei die genauen Zahlen nicht bekannt sind, eben wegen des Verbotes, die Religion zu erfassen. Das tief verwurzelte Anti-Religionsgefühl kam ans Licht bei den Massendemonstrationen nach den Anschlägen, "republikanische Märsche" genannt. Familien, Studenten, Verkäuferinnen und Postangestellte zogen durch die Straßen. Sosehr ich auch Ausschau hielt, Kopftuchträgerin war nur eine darunter: "Ich kam, weil ich Muslimin bin", sagte mir die junge Frau, "aber keine Terroristin!" Was niemanden daran hinderte, die Frau misstrauisch von der Seite anzublicken. Die Angst sitzt eben tief. Angst vor einer Minderheit, die man nicht wirklich kennt.
"Anfang des Krieges"
"Schockzustand" ist der Ausdruck der französischen Medien. Er trifft genau. "Das ist nur der Anfang des Krieges", sagt mir eine Bekannte, Mutter von zwei Kindern. Sie traut sich kaum mehr aus dem Haus. Zum Protest ließ sie andere gehen. Eine andere Familie sagte die Teilnahme an der Demonstration in letzter Minute ab, weil der kleine Sohn krank wurde. Er hat Angstzustände. In den Apotheken steigt seit den Anschlägen der Verkauf von Schlafmitteln und Antidepressiva.
Irgendwas muss jetzt geschehen. 2012, als der radikale Islamist Mohammed Merah mehrere Menschen erschoss, ging das Land schnell wieder zur Tagesordnung über. Genau so war es nach den Jugend-Unruhen 2005 in den Vororten, "banlieux" oder "citées" genannt. Dabei zeigte sich damals schon, dass die Erziehung zum "religionsfreien" Menschen unter Frankreichs Muslimen nicht so richtig funktioniert. Und wenn ein junger Muslim einen Abschluss schafft, bekommt er keinen Job in Frankreich – wegen der Wirtschaftskrise und wegen des Rassismus gegen Ausländer, hört man oft.
Im heißen Herbst 2005 brannte es zwei Wochen in den Vororten, wo die drei jungen Attentäter herkommen. Polizisten wagten sich nicht in die trostlosen Siedlungen der Arbeitslosen, der Drogen und der ersten Radikalen. Immerhin gab es Debatten: Was war schiefgelaufen? Laut der Chefin der rechts-populistischen "Front National", Marine le Pen, sind alle Regierungen zu tolerant gegenüber illegaler Einwanderung und Werteverfall.
Aber in Wahrheit kümmern sich wenige um die Probleme der Vororte. Meine Freunde, darunter zahlreiche französische Reporter, vermeiden das "andere" Paris, wo der Islam Ventil und Machtfaktor zugleich ist. Zugeständnisse an die Religion, wie die Gründung des "französischen Rats der Muslime" 2003, haben wenig bewirkt.
Die Grenze der Toleranz ist längst erreicht. Frankreich hat seine eigenen Geistlichen nicht "umgebracht", um sich dem importierten Islam zu unterwerfen, der noch dazu Terroristen Ideen gibt.
Inzwischen werden nicht nur Korane und Predigten (per Internet) eingeführt, sondern die pseudo-religiösen Stellvertreter-Kriege des Nahen Ostens. Der Gaza- Konflikt, der Krieg in Syrien.
Kennzeichnend für das gespaltene Land ist ein neuer "Skandal" seit den Anschlägen. Langsam kommt heraus, dass in einigen Schulen Schüler während der staatlich angesetzten Schweigeminute bewusst geplaudert hatten. Dabei war sie für alle Terror-Opfer, Zeichner wie jüdische Kunden in dem Supermarkt, Polizisten, unter denen einer Muslim war, angesetzt worden. Laut der Tageszeitung Figaro wurde im Vorort Chateauroux ein Jugendlicher zusammengeschlagen, nur weil der den inzwischen weltbekannten Aufkleber trug: "Ich bin Charlie", "Je suis Charlie". Mehrere Gemeindebedienstete wurden suspendiert, weil sie den Terrorakt "lobten".
Gespaltenes Land
"Charlie" ist kein Star aller Franzosen. Am wenigsten unter den aufmüpfigen Muslimen in Creteil oder Bagneux, wo sich Coulibaly nach der Schule in der für Fundamentalisten üblichen Karriere radikalisierte: Kleinkrimineller, Haft in Fleuris Merogis, Europas größtem Gefängnis. In der Zelle Kontakt mit einem radikalen Prediger. Coulibaly kaufte die Kalaschnikow, mit der er in dem Supermarkt herumschoss, für 1000 Euro. Laut einem Terror-Experten sei es kein Problem, in den Pariser Grenzbezirken an Waffen heranzukommen. Die Brüder Kouachi hatten eine ähnliche Karriere hinter sich.
Einheit bewahren! Gemeinsam den Terror bekämpfen! Der Aufruf von Präsident Hollande nach den Attentaten war so deutlich, weil Frankreich gespalten ist. Christen, Juden und genauso Muslime dürfen sich nur privat der Religion widmen. Das ist die rote Linie, die nicht überschritten werden darf. Sonst "droht ein Bürgerkrieg", meinen einige.