Politik/Ausland

"Regierung muss mit Boko Haram verhandeln"

Wurden sie sexuell missbraucht? Vielleicht. Sind sie traumatisiert? Wahrscheinlich. Leben sie noch? Ich hoffe. Aber über die entführten Mädchen weiß niemand Genaues", sagt der nigerianische Top-Journalist Oghogho Arthur Obayuwana im KURIER-Gespräch. Zwei Monate sind die rund 200, vorwiegend christlichen Schülerinnen schon in der Hand der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram, die im Norden Nigerias Angst und Schrecken verbreitet.

Dass die Jugendlichen freikommen, liege in der Hand der Regierung unter Staatspräsident Goodluck Jonathan, so der Außenpolitik-Chef der nigerianischen Zeitung The Guardian. "Ihrer Argumentation, dass sie nicht mit ,Kriminellen‘ ein Tauschgeschäft abschließe – Mädchen gegen Boko-Haram-Terroristen –, fehlt der Dampf. Sie ist nicht in der Position der Stärke, das zu tun, und muss verhandeln."

"Straffreiheit"

Gravierende Fehler seien schon im Vorfeld passiert. "Ganz grundsätzlich, weil es bei uns eine Kultur der Straffreiheit gibt. Vergewaltigung und andere Verbrechen werden kaum geahndet. Das hat Boko Haram erst richtig ermutigt", so der Insider, der auf Einladung des Presseclubs Concordia in Wien weilte. Zudem hätten es die Verantwortlichen verabsäumt, die "Nester" der Extremisten auszuheben, das wäre möglich gewesen, denn "Nigeria hat die stärkste Armee Afrikas". "Jetzt aber hat Boko Haram die Mädchen, was sie fast unbesiegbar macht, weil der Versuch einer gewaltsamen Befreiung in einem Blutbad enden könnte."

Die Regierung ist in einer Zwickmühle, und der Druck auf sie wächst: Immer wieder gehen Menschen in der Hauptstadt Abuja auf die Straße und fordern die Freilassung der Mädchen sowie von den Behörden mehr Einsatz. Am Dienstag reagierten diese darauf, indem sie jegliche Demonstrationen in dieser Causa verboten.

Maximal 1000 Kämpfer

Oghogho Arthur Obayuwana schätzt die Zahl der islamistischen Kämpfer auf 500 bis maximal 1000. Das selbst gesteckte Ziel der Truppe, einen Gottesstaat etablieren zu wollen, sei nur "ein Vehikel, das die wahren Absichten verschleiert: Sie wollen die Regierung stürzen – und finden dabei bei einigen wenigen, aber gewichtigen Personen Unterstützung, die selbst an die Macht kommen wollen".

Während die Schar der bewaffneten Boko-Haram-Einheiten also überschaubar sei, sei die Gruppe der Sympathisanten in der Nordregion, die von den lokalen Regierungen vernachlässigt worden sei, allerdings sehr groß. "Hier gibt es eine Armee von Bettlern. Diese habe kaum Schulbildung, keine Zukunftsperspektiven, und obendrein wurden sie von den Terroristen einer Gehirnwäsche unterzogen. Aus diesem Reservoir rekrutieren sie neue Kräfte", analysiert der Journalist.

Ungefährlich sei es nicht, offen gegen Boko Haram aufzutreten, sagt der 45-Jährige, "aber es wäre tragisch, vor einer solchen bösen Gruppe in die Knie zu gehen. Wenn man etwas für richtig erkannt hat, muss man dafür kämpfen."