„In zehn Jahren ist die EU aufgelöst“
Welches Ziel hat ein EU-Skeptiker als Abgeordneter im Europäischen Parlament? Seinen Arbeitsplatz zu verlieren. „Ich würde liebend gerne eines Tages im EU-Parlament aufstehen und die britischen Abgeordneten anführen, die zum letzten Mal den Saal verlassen“, sagt Nigel Farage. Seit 1999 ist Farage EU-Mandatar, seit 2006 (mit einem Jahr Pause) Vorsitzender der UK Independence Party (UKIP), deren zentrales Anliegen Großbritanniens Ausstieg aus der Europäischen Union ist.
UKIP punktet bei vielen Konservativen, denen der EU-Kurs von Premier Cameron zu weich ist. Die am Mittwoch verabschiedete Erklärung der Konservativen, es werde eine Volksabstimmung über den EU-Austritt geben (siehe Artikel unten), hält Farage für „eine letzte panische Verzweiflungstat“, wie er zum KURIER sagt. Bei der Debatte über ein EU-Referendum „hat sich Cameron auf unser Gebiet begeben – da werden wir gewinnen“.
Während UKIP sofort über den Verbleib in der EU abstimmen lassen möchte, will Cameron dies erst in ein paar Jahren tun – und zuerst einen „neuen Deal“ mit der EU verhandeln. Unabhängig vom Ergebnis will er aber dann dafür werben, in der EU zu bleiben. „So bringt es doch nichts, neu zu verhandeln“, kritisiert Farage. „Solange man nicht mit einem großen Knüppel daherkommt, sind die Chancen, in solchen Verhandlungen etwas aus Brüssel zu bekommen, gleich null.“
„Haufen alter Männer“
Farage bemängelt das „Demokratie-Defizit“ der Union. Das klingt zunächst theoretisch, lasse sich aber auch jungen Wählern ganz leicht und praktisch erklären, sagt er: „Es ist ganz einfach: Wollen wir die Kontrolle über unser Leben haben? Oder soll ein Haufen alter Männer in der EU-Kommission, die wir nicht gewählt haben und die wir nicht abwählen können, die Gesetze machen und jeden Aspekt unseres Lebens regulieren?“
Als entscheidenden Faktor für die EU-kritische Stimmung der Briten sieht Farage „die Freizügigkeit zwischen armen und reichen Ländern, die seit der Ost-Erweiterung 2004 zu einer massiven Einwanderung von Arbeitskräften geführt hat. Nächstes Jahr öffnet sich die Tür (zum britischen Arbeitsmarkt, Anm.) für Rumänien und Bulgarien. Das wird eine Belastung für unsere Schulen, Krankenhäuser, für das Sozialsystem.“
Für UKIP führt am Austritt aus der EU daher kein Weg vorbei: „Die EU ist ein desaströses Durcheinander. Das aufzulösen wird schmerzvoll. Aber es wäre noch schmerzvoller, so weiterzumachen.“ Ein Ausstieg der Briten wäre für die Union „die Todes-Urkunde“, glaubt Farage, „weil sich damit zeigen würde, dass die EU und ihr Wachstum nicht alternativlos sind. Das war in den vergangenen Jahrzehnten aber das größte Argument für die EU.“ Die Auflösung der Union komme „sicher innerhalb der nächsten zehn Jahre. Das wird zu Gewalt führen, vielleicht zu einer Revolution“, sagt Farage und vergleicht die Entwicklung der EU mit jener der Sowjetunion: „So wie der Kommunismus Russland hätte gerechter machen sollen und es noch ungerechter gemacht hat, wird die EU Nationalismus verursachen, obwohl sie ihn verhindern sollte.“
Aufwind für EU-Gegner
Mit Blick auf die Europa-Wahlen in einem Jahr hofft Farage, „dass wir andere inspirieren können, die sich wünschen, nationale Demokratie zurückzuerobern aus den Klauen der EU“. EU-Gegnern in Österreich macht er mit einem grenzwertigen Vergleich Mut: „Das österreichische Volk hat Nazi-Deutschland überstanden. Ich bin sicher, es wird kein Problem haben, die Entschlossenheit zu finden, die EU zu überwinden und einmal mehr den demokratischen Willen des Volks zum Blühen zu bringen.“
„Es geht nicht mehr darum, ob es stattfindet, sondern nur noch darum, wann.“ Vize-Premier Nick Clegg lässt keine Zweifel mehr offen: Großbritannien steuert geradewegs auf eine Volksabstimmung über den EU-Austritt des Landes zu und zwar eher früher als später.
Erneut beschleunigt wird diese Entwicklung durch die blamable Niederlage von Premier Cameron am Mittwoch im britischen Unterhaus. 130 konservative Parlamentarier stimmten für eine Erklärung, die – wenn auch über Umwege – das EU-Referendum forderte. Offiziell wird in der Erklärung bedauert, dass die Königin bei ihrer Rede vor dem Parlament in der Vorwoche kein Gesetz über die Volksabstimmung angekündigt habe. Da diese Rede – es ist die jährliche Vorschau auf die Gesetzesvorhaben des Parlaments – traditionell vom Premier verfasst wird, richtet sich auch die Erklärung frontal gegen diesen.
Obendrein wurde ein weit vorsichtigerer Vorschlag zum gleichen Thema, den Cameron selbst eingebracht hatte, von mehr als 100 Abgeordneten aus seiner eigenen Partei abgelehnt.
Cameron, derzeit auf offiziellem Besuch in Washington, gibt sich betont gelassen: Die Abstimmung habe nicht allzu viel Bedeutung und sei unverbindlich gewesen.
Doch der politische Druck auf ihn wächst. Seit dem jüngsten Erfolg der offen europafeindlichen UKIP bei Lokalwahlen werden auch bei den Konservativen die Stimmen, die nach einer Volksabstimmung rufen, immer lauter.
Auslöser der Entwicklung war Cameron selbst. Er hatte zu Jahresbeginn eine Volksabstimmung über die britische Mitgliedschaft bis spätestens 2017 in Aussicht gestellt. Voraussetzung ist eine grundlegende Änderung der EU-Verträge. Dass die durch die jüngsten Entwicklungen wie die Rettung von Griechenland und Zypern ohnehin bereits erfolgt sind, davon sind immer mehr britische Politiker überzeugt. Das Referendum daher zwingend. Und zwar vor 2017.
„Wenn sich die Aufregung gelegt hat“, versucht Außenminister William Hague zu beruhigen, „ist klar, dass die Konservativen die einzige Partei sind, die klar für ein Referendum ist.“ Die Labour-Opposition sieht dagegen keine entschlossene Regierung, sondern einen Aufstand gegen den Premier: „Cameron hat die Kontrolle verloren.“