Politik/Ausland

Deutschland trauert um Altkanzler Helmut Schmidt

Helmut Schmidt ist tot. Er starb im Alter von 96 Jahren am Dienstag gegen 14.30 Uhr in Hamburg, im Kreis seiner Familie. "Er ist sehr friedlich und entspannt, allerdings ohne Bewusstsein wie schon in den vergangenen Tagen über, eingeschlafen und verstorben", sagt Schmidts Arzt Heiner Greten und fügt an: "Er wollte immer zu Hause sterben, und er ist zu Hause gestorben."

Der Gesundheitszustand des deutschen Altkanzlers hatte sich in den vergangenen Tagen deutlich verschlechtert. Schmidt, der am 23. Dezember 97 Jahre geworden wäre, war Anfang September wegen eines Blutgerinnsels am Bein operiert worden. Davon hatte er sich nie erholt. Nicht einmal mehr rauchen wollte er - was für den überzeugten Mentholzigaretten-Konsumenten, der sich stets über quasi alle Rauchverbote hinwegsetzte, etwas heißen will.

Schmidt war von 1974 und bis 1982 als Nachfolger von Willy Brandt deutscher Bundeskanzler. In der Großen Koalition führte er von 1967 bis 1969 die SPD-Bundestagsfraktion und war danach Verteidigungs- und Finanzminister. In seine Amtszeit fielen die Auseinandersetzung mit den Terrorakten der linksextremen RAF und der NATO-Doppelbeschluss.

Rückblick auf sein Leben

"Ich wäre sofort zurückgetreten“, sagte Schmidt später über die einzige Alternative zur einsamsten Entscheidung seines Lebens: Nach fünf nervenzerfetzenden Tagen das von palästinensischen Terroristen gekaperte Lufthansa-Flugzeug "Landshut" mit 87 Geiseln an Bord in Mogadischu stürmen zu lassen – und viele Tote zu riskieren. Die Palästinenser wollten damit die in Deutschland inhaftierte RAF-Spitze freipressen.

Aber alle Geiseln und fast alle Polizisten der deutschen Spezialeinheit GSG 9 blieben unverletzt. Danach flossen im Lagezentrum in Bonn Tränen der Erleichterung – auch vom Kanzler. An diesem 18. Oktober 1977 musste er dann auch noch die letzte Zuspitzung im Kampf der Linksterroristen gegen den Staat miterleben: Die Ermordung des entführten Industriellen-Präsidenten Hanns-Martin Schleyer. Es war ihre Rache für die Erstürmung der Landshut und den unmittelbar darauf im Gefängnis begangenen Selbstmord der RAF-Spitze.

In dieser von ihm als „existenziell bedrückend“ empfundenen Zeit hatte Schmidt, wie meist, einen guten Teil seiner SPD, der Intellektuellen und der Medien gegen sich, was sein Handeln nicht erleichterte. Deren Beschäftigung mit dem Linksterrorismus empfinde er ohnehin als „übertrieben im Verhältnis zu dessen geschichtlichem Gewicht“, sagte er später. Und dass er das Amt des Kanzlers mit den seine Gesundheit beeinträchtigenden 16-Stunden-Tagen auch deshalb als „Last“ empfand. Keiner hat seine politische Rolle lebenslang so hinterfragt wie er – auch nicht sein Vorgänger Willy Brandt.

Orientierung an großen Staatsmännern

Schmidt hatte sich früh an großen Staatsmännern orientiert und in späten Lebensjahrzehnten wohl auch an ihnen gemessen – von Marc Aurel bis Winston Churchill. Mit Philosophen beschäftigte er sich lebenslang: Von Immanuel Kant, dessen „Lob des Pragmatismus für sittliche Zwecke“ er beim Regierungsantritt zu seinem Motto erklärte, bis zum Exil-Österreicher Karl Popper, mit dessen Hilfe er sich von der Heilslehre reiner Marxisten klar abgrenzte. Pragmatismus, gepaart mit messerscharfem Verstand, hanseatischer Geradlinigkeit und der Lust am Wort und an politischer Gestaltung prägten Schmidts Amtszeit, ja sein Leben. 1918 in kleinbürgerliche, aber bildungsbeflissene Verhältnisse in Hamburg geboren, er- und überlebte der Maturant drei Jahre an der Ostfront, zuletzt als Oberleutnant. Jung verheiratet mit seiner „Kindergartenliebe Loki“, studierte er Volkswirtschaft und rückte in der Hansestadt politisch rasch auf.

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"Schmidt-Schnauze" und die Sturmflut

Bundesweit bekannt wurde er als Innensenator in der Jahrhundert-Sturmflut 1962, als er Hamburg vor einer noch größeren Katastrophe bewahrte: „Wir guckten da nicht aufs Grundgesetz“, sagte er später über mannigfache Kompetenzüberschreitungen, die Tausende Leben retteten.

Bald zog es ihn in die Bundespolitik, in der er die zwei Jahre als SPD-Fraktionschef als „schönste Zeit“ der Karriere erlebte. Damals bekam er den journalistischen Ehrentitel „Schmidt-Schnauze“ für sein überragendes, aber nie verletzendes Redetalent. Als Verteidigungs - und später Finanzminister war er schon sichtlich in seinem Element: Tatkraft und Weitsicht hatte er wie kein anderer in der SPD. Damit war er der logische Nachfolger, als Kanzler Brandt entnervt aufgab.

Wirtschaftskrisen

Schmidts Ära war neben dem RAF-Terror geprägt von zwei abrupten Wirtschaftskrisen, ausgelöst durch politisch motivierte Ölpreiserhöhungen. „Die Deutschen ertragen leichter fünf Prozent Inflation als fünf Prozent Arbeitslosigkeit“, war seine Begründung für eine exorbitante Schuldenpolitik, die Bruno Kreisky kopierte. In Schmidts acht Jahren Kanzlerschaft explodierten die Staatsschulden auf das Vierfache, zugleich wurde das Rentenalter stark heruntergesetzt. Es ist auch sein Erbe, das Angela Merkel in wirtschaftlich mindestens ebenso schweren Zeiten bewältigen muss. Immer mehr wandte sich Schmidt der Außenpolitik zu, zuerst in einer Freundschaft mit Frankreichs Präsidenten Giscard d'Estaing. Sie erfanden mit der G7-Runde den Gipfeltourismus: „Da wird wenig Wichtiges entschieden, aber viel Schlimmes verhindert“, rechtfertigte ihn Schmidt später.

Immer bitterer wurde die Auseinandersetzung mit der Linken, auch der eigenen Partei, deren Vorsitzender er nie war. Schmidts felsenfeste Überzeugung, dass nur westliche Nachrüstung die wachsende sowjetische Bedrohung bremsen könne, war in der SPD mehr als umstritten. Dass zuletzt 350.000 Menschen gegen seine Nachrüstungspolitik und ihn selbst demonstrierten, hat den überzeugten Sozialdemokraten tief getroffen. Beirren ließ er sich davon nicht, auch wenn er schon 1980 „die Grenzen der Regierbarkeit“ fühlte. 1982 zerbrach die Koalition mit der FDP Hans-Dietrich Genschers, der instinktsicher zu Helmut Kohls Union umschwenkte.

"Der große Alte"

Danach wurde es um Schmidt rasch still. Er wurde Mitherausgeber der Zeit, schrieb Bücher, widmete sich seiner Frau Loki (mit ihr war er fast sieben Jahrzehnte verheiratet) bis zu deren Tod 2010 und seinen Kunstinteressen. 2012 gab er seine neue Lebenspartnerschaft mit seiner langjährigen Vertrauten Ruth Loah bekannt.
Und er mied jahrzehntelang SPD-Parteitage. Die beiderseitige „Liebeslücke“ endete erst in den letzten Jahren. Nach dem Verlust der Macht durch Gerhard Schröder 2005, der ihm in Pragmatismus und Kaltschnäuzigkeit nicht nachstand, wohl aber in Intellektualität, wurde Schmidt zum Großen Alten. Überhäuft mit allen Würdigungen entdeckte die SPD ihn als ihr bestes Zugpferd für die politische Mitte. Auch mit weit über 90 war Schmidt noch gefragter Gast in TV-Talkshows, in denen er mit oft apodiktischem Urteil der Nation die Welt erklärte: Nicht altersmilde, sondern entschieden wie immer – mit der Aura des Weisen.

Heißgeliebte Zigaretten

Die heiß geliebte Zigarette rauchte immer dabei. Auf die Frage, was es für gute Entscheidungen brauche, sagte er einmal: "Entschlossenheit und genug Zigaretten.“
Am 10. November ist Schmidt, der noch im September wegen eines Blutgerinnsels im Bein operiert worden war, gestorben.

Zur Person

Schmidt wurde am 23. Dezember 1918 in Hamburg geboren; Soldat an der Ostfront, zuletzt Oberleutnant; nach dem Krieg Studium der Volkswirtschaft; am 27. Juni 1942 Hochzeit mit Hannelore Glaser („Loki“). Zwei Kinder, der behinderte Sohn starb nach acht Monaten.

Ab 1961 Innensenator in Hamburg, wo er sich während der Sturmflut 1962 als Krisenmanager auszeichnete; 1967 bis 1969 Chef der SPD-Bundestagsfraktion; 1969 bis 1972 Verteidigungsminister; 1972 bis 1974 Finanzminister. Von 1974 bis 1982 Bundeskanzler.

1983 wurde Schmidt Mitherausgeber des Wochenblatts Die Zeit. Er hatte zahllose Ehrenämter, verfasste viele Bücher, war gefragter Redner und streitbarer Diskutant.

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Es ist eine selten Gnade, so alt zu werden wie Helmut Schmidt, und bis zum Schluss geistig rege und körperlich aktiv zu sein. Selbst im Rollstuhl, den Schmidt seit einigen Jahren auch bei öffentlichen Auftritten verwendete, ging eine ungeheure Energie von dem alten Mann aus, der schnell ins Dozieren verfiel, dabei nicht uneitel, aber immer spannend war.

Viel bleibt vom Hamburger aus dem Stadtteil Bergedorf. Zweierlei soll hier hervor gehoben werden. Als Helmut Kohl den Bundeskanzler Helmut Schmidt mit dem sogenannten konstruktiven Misstrauensvotum stürzte, bei der eine parlamentarische Mehrheit aus CDU, CSU und großen Teilen der FDP für Kohl stimmte, ging er mit steinerner Miene zu seinem Nachfolger und gratulierte ihm. Er akzeptierte diese Mehrheit, so wie er zuvor zur Kenntnis nehmen musste, dass ihm seine SPD bei der Nachrüstung nicht folgte.

Als Herausgeber der ZEIT, Autor und Vortragender kam er dann immer wieder auf ein zentrales Thema der Demokratie zu sprechen: Auf die Qualität des politischen Führungspersonals. Schmidt verachtete geradezu Politiker, die keinen Beruf erlernt, also auf die Politik angewiesen waren. Er selbst hatte Volkswirtschaft studiert und arbeitete als Amtsleiter. Während der großen Sturmflut war er bereits Senator in Hamburg und bewährte sich als Krisenmanager. „Jemand, der in die Politik geht, ohne einen Beruf zu haben, kann mit gestohlen bleiben. Ich kenne leider genug von denen“, sagte er in der ihm eigene Kompromisslosigkeit. Nur die Möglichkeit der Rückkehr in einen Beruf garantiere Unabhängigkeit. Und sein Urteil über Bundestagsabgeordnete: “Fleißig sind sie, aber ihre Kenntnisse der Geschichte sind nicht ganz ausreichend.“ Das hat ihn stets bewegt: Dass unsere Zeit nur verstehen kann, wer die Geschichte gut kennt. Und noch etwas riet er den Politkern stets: Sich auf ein Thema zu konzentrieren, bei dem man sich wirklich gut auskennt. Niemand könne alles verstehen, aber die Fraktionen würden Fachleute brauchen, auf die sich andere Abgeordnete verlassen könnten.

Helmut Schmidt hat viel zurückgelassen: Kluge Bücher, großartige Interviews, weise Sprüche. Und ewig gültige Erkenntnisse über die Voraussetzung für gute Politiker.

Es dauert nicht lange. Kaum eine Stunde nach dem Tod von Altkanzler Helmut Schmidt versammeln sich die ersten Hamburger vor seinem Haus im beschaulichen Stadtteil Langenhorn. Sie legen Blumen nieder, zünden Kerzen an oder stehen einfach nur beieinander, um sich an "ihren" Hamburger Ehrenbürger zu erinnern.

Während in Berlin Bundespräsident, Bundeskanzlerin und wer im politischen Betrieb sonst noch von Rang und Namen ist des im Alter von 96 Jahren gestorbenen Staatsmanns gedenken, stecken in der kleinen Wohnstraße Familien mit ihren Kindern und Nachbarn weiße und rote Rosen oder Nelken in den Jägerzaun vor dem Klinkerhaus.

"Er war ein Mann, der zu seinem Wort stand", sagt Nachbarin Anita Sommerfeld. Die 60-Jährige ist sichtlich traurig, hält ihren Hund fest im Arm. Auch wenn sich der Tod des SPD-Politikers bereits seit Tagen abzeichnete, ist auch Ulrike Brodersen-Siering - sie wohnt seit 40 Jahren in der Nachbarschaft - erschüttert. "Wir waren in derselben Kirchengemeinde", sagt die 68-Jährige. Und ein 48-jähriger Mann, der extra aus Norderstedt gekommen ist, fasst zusammen, was die meisten vor dem Haus wohl denken, in dem Schmidt Jahrzehnte gelebt hat: "Das war ein guter Mensch, der da von uns geht."

Helmut Schmidt war von 1974 bis 1982 achteinhalb Jahre Kanzler, hatte es dort mit dem Terror der RAF, dem Ölpreisschock und dem NATO-Doppelbeschluss zu tun. Den Hamburgern ist er jedoch vor allem wegen seines Einsatzes während der Sturmflut 1962 in Erinnerung. Schließlich hatte der im Arbeiterviertel Barmbek geborene frühere Innensenator zahlreiche Menschenleben gerettet, indem er sich über Grundgesetz und so ziemlich alle Vorschriften einfach hinwegsetzte und unter anderem militärische Oberbefehlshaber aus ganz Europa persönlich um Hilfe bat.

Sie sollten mit Booten und Hubschraubern anrücken, um die Leute von den Hausdächern zu holen, forderte er. "Die haben zunächst geglaubt, ich sei verrückt geworden. Weil sie mich aber gut kannten, haben sie auf mein Insistieren hin schließlich sehr schnell funktioniert", erinnerte sich Schmidt später.

"Meine Eltern waren immer ein Fan von ihm"


Die Hamburger selbst vergessen das nie. So sagt etwa Schmidts Nachbarin Frauke Schwarz, die sich ebenfalls vor seinem Haus einfindet: "Meine Eltern waren nie politisch. Aber wegen seiner Leistung waren sie immer ein Fan von ihm." Die 59-Jährige - selbst seit 27 Jahren in der SPD - räumt aber auch ein, dass sie als Juso wegen des NATO-Doppelbeschlusses auf die Straße gegangen sei.

Helmut Schmidts Tod war absehbar. Bereits seit Tagen ging es ihm sehr schlecht. Er, der am 23. Dezember 97 Jahre geworden wäre, war Anfang September wegen eines Blutgerinnsels am Bein operiert worden. Davon hatte er sich nie erholt. Nicht einmal mehr rauchen wollte Schmidt - was für den überzeugten Mentholzigaretten-Konsumenten, der sich stets über quasi alle Rauchverbote hinwegsetzte und sogar in Kliniken und TV-Studios qualmte, etwas heißen will. "Er will und kann nicht mehr", sagte sein Kardiologe Karl-Heinz Kuck noch am Montag.

Schmidt stirbt am Dienstagnachmittag im Kreis seiner Familie. An seinem Bett wachen seine aus Südengland angereiste Tochter Susanne und seine Lebensgefährtin Ruth Loah. Die 82-Jährige hatte Schmidt 2010 über den Tod seiner Frau Loki hinweggeholfen, mit der er 68 Jahre lang verheiratet war.

(Von Markus Klemm, Matthias Benirschke und Bernhard Sprengel/dpa)