Mittelmeer-Reportage: Nachtrettung vor Libyen
Noch vor Sonnenaufgang, kurz vor fünf Uhr Früh, reißt ein Funkspruch die Besatzung der „VOS Prudence“ aus dem Schlaf: In einer Seemeile Entfernung treibt ein Boot im Meer. "Alle an Deck", befiehlt die Stimme in ruhigem Ton. Das Meer vor der Küste Libyens liegt glatt und tintenschwarz in der Dunkelheit. Im Lichtkegel des Suchscheinwerfers ist ein heller, schaukelnder Fleck zu erahnen. Worum es sich genau handelt, ist unklar, es könnte auch ein Fischer sein. Die Besatzung lässt eines der Beiboote zu Wasser. Kurz darauf die Bestätigung per Funk: Insgesamt 25 Personen sind an Bord eines Holzboots zusammengepfercht, unter ihnen drei Frauen, fünf Kinder und mindestens ein Baby. Die drei Männer im Beiboot verteilen die Rettungswesten.
Das bunt angestrichene, vollbesetzte Holzboot ist mit einer Länge von nicht mehr als acht Metern ungewöhnlich klein. Auch die Anzahl der Insassen sei untypisch gering, sagen die Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen (MSF), die seit bald einer Woche auf dem Rettungsschiff „Prudence“ im Mittelmeer unterwegs sind, um Migranten und Flüchtlinge aus dem Meer zu holen und nach Italien zu bringen. Eine der Frauen im Holzboot umklammert ein weinendes Mädchen, das nicht älter als fünf Jahre ist. Ihr Kopf ragt gerade noch aus der orangen Rettungsweste hervor. Frauen und Kinder zuerst, nach etwa 15 Minuten ist die Rettung abgeschlossen.
Die Herkunftsländer der Bootsinsassen sind Syrien, Palästina und Jemen. Am Vorabend um 21:10 Uhr seien sie von der libyschen Stadt Sabrata aus in See gestochen, sagt Radhi Hamoud, 27, ein ehemaliger Architekturstudent aus dem Jemen. Acht Stunden haben sie mit ihrem schwachen Motor gebraucht, um die zwölf Seemeilen bis in die internationalen Gewässer zu überwinden, wo sich die NGO-Schiffe aufhalten. Die Schlepper hätten sie noch bis dahin begleitet. Für zwei Stunden, bis die „Prudence“ aufkreuzte, waren sie komplett alleine in der Dunkelheit.
"Angst hatte ich keine", sagt Hamoud, in Libyen hätte er Schlimmeres erlebt. Warum ausgerechnet Libyen? "Ich hatte Freunde dort, die gemeint haben, dass es Arbeit gibt", sagt er. "Außerdem war es das günstigste Visum in den umliegenden Ländern." Ein Visum für Saudi Arabien hätte damals umgerechnet 2600 Dollar gekostet. Eines für Libyen nur 500 Dollar. Hamoud hielt sich in Tripoli mit einfachen Jobs und als Bauarbeiter über Wasser, für einen Bruchteil des Lohns, den ein Einheimischer erhält.
Zusammenbruch
Mit der Zeit sei die Lage in Libyen aber immer chaotischer und gewaltätiger geworden. "Ich habe Morde gesehen. Es gibt ständig Kidnappings. Ich wurde eingesperrt, geprügelt und musste mich mehrmals freikaufen." Zurück in den Jemen, wo mittlerweile ein blutiger Bürgerkrieg tobt, könne er nicht, sagt Hamoud. Also hätten er und drei seiner Freunde 4000 Dinar (2500 Euro) pro Person bezahlt, um in dem wackeligen Holzboot mitfahren zu können, das die "Prudence" in der Früh aufgelesen hat. "Ich habe im Fernsehen die Berichte von den Unglücken im Mittelmeer gesehen. Die Chance, dass ich in Europa bleiben kann, liegt bei vielleicht fünf Prozent", sagt Hamoud. "Aber das ist mir viel lieber, als noch länger in Libyen zu bleiben."
Während die Geretteten Schlange stehen, um von einem Crewmitglied nach gefährlichen Gegenständen abgetastet zu werden, driftet das bunte Holzboot in der Morgensonne davon. Zuvor hat es die Beiboot-Mannschaft noch mit einer Spraydose markiert, in roten Lettern leuchtet am hellblau gestrichenen Deck das heutige Datum und das Kürzel "SAR" für "Search and Rescue".
Zerstören oder belassen?
Es ist gängige Praxis der Ärzte ohne Grenzen (MSF), die Boote intakt zu lassen. "Zu unserer eigenen Sicherheit", sagt Stephan Van Diest, der Teamleiter der MSF an Bord. Man wolle sich nicht zum Ziel jener Unbekannten machen, mutmaßliche Schlepper, die mit ihren Motorbooten häufig Rettungsaktionen aus sicherer Entfernung abwarten und hinterher die Motoren abmontieren, um sie in Libyen zu verkaufen – oder für das nächste Flüchtlingsboot zu verwenden. Vergangenen Sonntag erst hatte die Besatzung durch Feldstecher beobachtet, wie ein kleines Motorboot nach einer Rettung verdächtig nahe an einem der leeren Schlauchboote Halt machte.
Vor allem aber würde die Qualität der Boote – und damit die Sicherheit der Insassen – abnehmen, je mehr von ihnen nach den Rettungen versenkt werden, sagt Van Diest. Er bezieht sich unter anderem auf eine parteiübergreifende Untersuchung im House of Lords, dem Oberhaus des britischen Parlaments. Sie kam Mitte Juli zu dem Ergebnis, dass das Versenken der leeren Boote, etwa durch Schiffe der EU-Mission "Sophia", eine Steigerung der Totenzahlen auf der Mittelmeer-Route bewirkt habe. Weil viele ihrer Holzboote zerstört wurden, seien die Schlepper auf die gefährlicheren Schlauchboote umgestiegen, so die Conclusio. Zu demselben Schluss kommt eine Untersuchung, die Forscher der Universität London durchgeführt haben, die sich wiederum auf einen Halbjahresbericht der Operation "Sophia" stützen.
Der Umgang mit den leeren Booten ist ein heiß diskutiertes Thema. Nicht nur die Kriegsschiffe, auch manche NGOs sind dazu übergegangen, sie nach der Rettung in Brand zu setzen. In ihrem neuen Regelwerk für NGOs will die italienische Regierung die Organisationen dazu verpflichten, die Boote samt Motoren wenn möglich einzubehalten, um den Schleppern die Arbeit zu erschweren. Der UNHCR-Sondergesandte für das Mittelmeer, Vincent Cochetel, wiederholte am Rande Treffens zwischen afrikanischen und EU-Ministerin in Tunis seine Forderung, Schlepperboote systematisch zu zerstören oder zu beschlagnahmen.
Lesen Sie hier den Blog der KURIER-Reporter über ihre Tage an Bord des Rettungsschiffes.