Statt in die Freiheit ins Chaos
Exakt heute vor drei Jahren gab es Freudenfeste in Libyen. Die Massen bejubelten den Tod des gestürzten Langzeit-Machthabers Muammar al-Gaddafi. Drei Jahre später herrscht Katzenjammer. Zigtausende Libyer sind im bis heute andauernden Bürgerkrieg gestorben, 1,2 Millionen der 5,5 Millionen Libyer sind innerhalb- und außerhalb des Landes auf der Flucht. Islamistische Milizen mit Sympathie für den in Syrien und im Irak kämpfenden "Islamischen Staat" (IS) sind im Vormarsch. Die Übergangsregierung, die in der Raffinerie-Stadt Tobruk fern von Tripolis agiert und keine Macht hat, bettelt den Westen um Hilfe an. Und in den Küstengebieten warten geschätzte 600.000 Afrikaner auf eine Chance zur Überfahrt nach Italien, ins vermeintliche Paradies Europa.
Welle der Gewalt
"Es sieht sehr düster aus", sagt der frühere österreichische Verteidigungsattaché in Libyen, Wolfgang Pusztai im KURIER-Gespräch. Seit einigen Wochen erlebt der nordafrikanische Staat die schwerste Gewaltwelle seit Gaddafis Ende. Es kämpft ein für Außenstehende kaum durchschaubares Netz Dutzender unterschiedlicher Milizen – organisiert nach Städten, Regionen, Stämmen und religiösen Gesichtspunkten. Selbst innerhalb der Islamisten gibt es verschiedene Gruppen. Eine der radikalsten sind die Salafisten der Ansar al-Scharia, ihr Kernzentrum ist Derna und Bengasi im Osten. Laut der libyschen Nachrichtenseite Al-Wasat will die Miliz der libysche Ableger des IS und eine "Tochter" des von der IS ausgerufenen Kalifats werden.
Das ist aber nur ein Aspekt im Gewirr des Bürgerkrieges in Libyen. Sollte der Westen nicht eingreifen – und danach schaut es derzeit aus –, "dann ist Libyen auf dem Weg zum Libanon wie Anfang der 1980er-Jahre. Also einem anhaltenden Bürgerkrieg zwischen annähernd gleich starken Parteien, wobei die Regierung eine davon ist und verschiedene Nachbarstaaten mitmischen", erklärt Pusztai. So könnte die Regierung in Kairo nicht mehr sehr lange zusehen, dass in Ägypten kämpfende Dschihadisten in Libyen sichere Rückzugsgebiete hätten.
Die Interessen der Europäer – allen voran Italiens – reichen von Wirtschaftsverbindungen und der Versorgung mit Öl und Gas bis hin zur Flüchtlingsfrage und der Terrorgefahr. "Gründe genug, um sich zu engagieren", sagt Pusztai. Er plädiert dafür, die wichtigsten Konfliktparteien durch politischen Druck – internationale Kontensperren und Reisebeschränkungen – an einen Verhandlungstisch zu bringen.
Feind von außen
Außerdem könnten Friedenstruppen, "am besten UN-Blauhelme", zur temporären Absicherung einer Lösung ins Land geschickt werden. "Eines geht sicher nicht: eine internationale Militärintervention ohne Zustimmung der wichtigsten Gruppen im Land. Denn dann verbünden sich alle jetzt verfeindeter Milizen gegen den neuen Feind von außen", sagt der Nordafrika-Experte.
Er fürchtet aber, dass der Westen untätig bleibt. Pusztai: "Drei Jahre nach Gaddafis Tod herrscht großer Katzenjammer im Land. Und eine erkleckliche Zahl an Libyern sagt heute, wenn auch nur unter vorgehaltener Hand, dass es unter Gaddafi besser war."
Muammar al-Gaddafi herrschte fast 42 Jahre lang unumschränkt und mit eiserner Faust in Libyen. Geschickt spielte er die vielen Stämme im Land gegeneinander aus. International unterstützte er diverse Terrorgruppen. Im Westen war er mal geächtet, mal hofiert – nicht zuletzt wegen der reichen Erdöl- und Erdgasvorkommen im Land.
Sonst fiel der Exzentriker, der auch auf Auslandsbesuchen im Zelt nächtigte, durch seinen Hang zu Fantasie-Uniformen und wegen seiner weiblichen Leibgarde auf. 2008 ließ er sich von mehr als 200 afrikanischen Königen und Stammesführern zum „König der Könige“ von Afrika ausrufen.
Bereits auf der Flucht beschimpfte der 69-jährige Gaddafi in einer Audiobotschaft die Rebellen als „Ratten“, die er von Gasse zu Gasse, Haus zu Haus jagen werde.
Doch es kam anders: Gaddafi war im Oktober 2011 längst gestürzt und mit seinen Getreuen auf der Flucht. Dabei musste er offenbar vor NATO-Bombardement Schutz suchen – und fand ihn in einem Kanalrohr. Sicher ist nur, dass ihn Rebellen fanden, herauszerrten und töteten. Wie, ist bis heute ungeklärt. Von einem Kopfschuss reden die einen, von grausamen Schnittverletzungen und verbluten lassen die anderen. Wieder andere berichten, Diktator Gaddafi sei gepfählt worden.