Politik/Ausland

Koalitionsverhandlungen: "Extrem schwere Tage"

Egal, wie die Verhandlungen der drei Parteichefs, die Sonntagnachmittag im Kanzleramt begannen, in den nächsten 48 Stunden oder mehr ausgehen, in einem waren sie schon einig: In der Einschätzung, dass „die Tage und Nächte extrem schwer“ (CSU-Chef Horst Seehofer), „sehr, sehr schwer“ (SPD-Chef Sigmar Gabriel), „ziemlich anstrengend“ (CDU-Chefin Angela Merkel) werden. Auch dieses Hochschrauben der Spannung gehört zum politischen Spiel, für das inzwischen das Wort vom „Koalitionspoker“ das am häufigsten gebrauchte ist.

Dabei ist die Ausgangslage einfach: Merkel hat mit ihrer hohen persönlichen Beliebtheit und weitgehenden politischen Beliebigkeit die Wahl vom 22. September grandios gewonnen: Ihre 41,5 Prozent galten als nie mehr erreichbar für eine Partei – auch wenn die Union formal aus zweien besteht. Noch weniger greifbar schien eine absolute Mehrheit, zu der ihr nun im Bundestag nur fünf der 630 Mandate fehlen.

Der Hauptkonkurrent SPD hingegen kam mit 25,7 Prozent kaum über sein historisches Tief von 2009 hinaus. Dass die inzwischen selbst erklärten „Wahlverlierer“ (Gabriel) nun zum zweiten Mal in eine Regierung Merkel eintreten sollen, ist dem Scheitern von deren Partner FDP an der Fünf-Prozent-Hürde geschuldet. Und dass zur – außer der kommunistischen „Linken“ – einzigen weiteren Bundestags-Partei, den Grünen, die politische Kluft noch größer schien.

Gabriels Coup

Doch bisher spiegelte sich die Differenz der 18 Millionen Unions-Stimmen zu den elf Millionen der SPD in den Koalitionsverhandlungen nicht wieder. Das ist vor allem der riskanten Taktik Gabriels geschuldet: Mit seiner prompten Erfindung des Votums für die traditionell besonders Merkel-kritische SPD-Basis über den ausgehandelten Koalitionsvertrag vergrößerte er sein Druckpotenzial weit über das Maß des einzig logischen Partners hinaus. Daraus reklamiert er eine „Koalition auf Augenhöhe“ und den im Wahlkampf versprochenen „Politikwechsel“.

Der zweite Grund, warum in den acht Wochen seit der Bundestagswahl fast alle politischen Themen von der SPD und sogar der CSU aber nicht von Merkel gesetzt wurden, ist ihre „Politik der Kontinuität“: „Die haben gar keine Positionen, die sie räumen könnten“, staunte ein prominenterer SPD-Unterhändler in einer der 16 Fach-Arbeitsgruppen, die bis Sonntag möglichst viele Punkte hätten klären sollen. Was vollständig nur der für Gesundheit gelang, bei allen anderen blieben meist die harten Kernpunkte, vor allem die Finanzierung neuer Wünsche, offen – für die Chefs.

Merkel als SPD-Geisel

Dem nicht nur von der Wirtschaft scharf artikulierten Eindruck, die Union werde von der SPD und ihren vielen Forderungen zur „reinen Nein-Sagerin“ degradiert, trat Merkel am CSU-Parteitag am Freitag entgegen: „Es gibt auch das politische Nein, das Schlimmeres verhindert“, verteidigte sie ihre Zurückhaltung bei neuen Inhalten – nicht nur in den Koalitionsverhandlungen.

Kraftvolle Führung, die Merkel mit ihrem Wahlsieg endlich beginnen könne, sehe anders aus, kritisieren schon jetzt die Medien von rechts bis links: Im Wust neuer Sozialleistungen für die jeweilige Klientel blieben Deutschlands Zukunftsprobleme weitgehend ungelöst, von effizienter Bildungspolitik bis zur maroden Infrastruktur und der völlig verfehlten Energiewende, die zur Bremse für das Industrieland wird.

Wie weit der SPD-Chef mit dem Erpressungspotenzial seines Basis-Votums bei Merkel durchkommt, ist offen: Sie ist eine gewiefte, EU-gestählte Verhandlerin, besonders in langen Nächten. Allerdings wird sie ihm auch substanzielle Zugeständnisse machen, darauf hat sie die CDU vorbereitet.

Berichte wie des mit der SPD-Linken wieder sympathisierenden Spiegel stützen Gabriels Verhandlungsmacht: Der Unmut der Basis wachse stark statt abzunehmen. Womit die Chancen der Großen Koalition sänken, auch wenn der mühsam ausgehandelte Vertrag am Mittwoch vorliegen sollte.

Längst sei die viel größere Herausforderung Gabriels das Überzeugen seiner Basis als das von Merkel, so die breite Meinung in Berlin. Nicht nur auf ihn warten auch danach noch „sehr schwere Tage“.

Mindestlohn Die SPD will ultimativ den „flächendeckenden, einheitlichen Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde“. Sie wird ihn wohl wörtlich im Vertrag bekommen. Im Kleingedruckten aber mit Verzögerung und Kommissionsmitsprachen, die verhindern sollen, dass zu viele Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor vernichtet und so die Sozialkassen wieder belastet werden.

Finanzen Da das „Nein“ von Merkels Union zu neuen Steuern und Schulden eisern ist, wird das der härteste Punkt: Die von den Fachpolitikern gewünschten Neu-Ausgaben von zusammen über 50 Milliarden Euro müssen auf unter zehn Milliarden zusammengestrichen werden, größer ist der Spielraum der automatischen Steuerzuwächse nicht. Prioritäten völlig offen.

Renten Die erst spät von der SPD zur Bedingung erhobene „abschlagsfreie Rente mit 63“ würde die 2007 von Union und SPD beschlossene, stufenweise „Rente mit 67“ aushebeln, was Merkel ausschloss: Kompromisse gibt es wohl für Härtefälle. Der von der Union versprochene Rentenbonus für Mütter, die ihre Kinder vor 1992 erzogen, wird von Gabriel nun vor der Basis verteidigt.

Pkw-Maut für Ausländer: Die ultimative Forderung der CSU wird wie der Mindestlohn wohl wörtlich genannt werden. Zur Durchführung muss die aber noch ein Konzept vorlegen, das keine Belastung deutscher Autofahrer und trotzdem EU-Kompatibilität garantiert. Wird mühsam.

Doppelstaatsbürgerschaft für Migrantenkinder: Diese SPD-Forderung wird wohl erfüllt, wenn auch mit Zeitkorridoren und Randbedingungen.

Homo-Ehe Die Gleichstellung homosexueller Paare im Familien- und Steuerrecht wird weitergeführt, um deren volles Adoptionsrecht wird heftig gerungen.

Kooperationsverbot Die SPD will Bundesgeld für Unis und Schulen, was eine Verfassungsänderung zulasten der Länder bedingt, von denen viele, vor allem das Schul-starke Bayern, mehr Zentralismus fürchten. Offen.

Ministerliste Öffentlich völlig unklar. Alles hängt am Finanzminister, dem wichtigsten Job: Bleibt das Wolfgang Schäuble (CDU), erhält die SPD eine hohe Kompensation. Dann wackelt das von Merkel angepeilte 6:3:6 für CDU, CSU und SPD. Besteht Gabriel darauf, kracht es gleich. Laut Spiegel könnte das Finanzministerium in konservativer Hand bleiben, Frank-Walter Steinmeier von der SPD dafür ins Außenministerium zurückkehren.

„Man hätte mich 1990 für verrückt erklärt, hätte ich uns 2013 die Oppositionsführung vorausgesagt. Ich mich auch.“ Mit diesem Vorgriff auf die Große Koalition und seine eigene Bedeutung als Oppositionschef gegen sie ist „Linke“-Fraktionschef Gregor Gysi am Karriere-Gipfel. Seit er die DDR-Diktaturpartei SED durch die Wende brachte und mit ihr die Kommunisten in den Bundestag, ist Gysi ihr faktischer Parteichef. Und der 66-Jährige träumt von mehr: Der Linksunion aus SPD, Grünen und Linken, mit der seine Kommunisten ganz Deutschland regieren könnten.

Dafür hat SPD-Chef Gabriel die wichtigste Voraussetzung geschaffen. Er ließ seinen Parteitag letzte Woche das bisherige formale Nein zur Koalition mit der Linksunion streichen. Diese Öffnung war primär taktisch: Um Merkel mit einer Alternative zu drohen, vor allem aber, um der SPD- Basis die ersehnte Perspektive über die ungeliebte Koalition hinaus zu geben. Wenn auch erst „nach der nächsten Wahl 2017“.

Dass die Basis so skeptisch ist, ist auch das Werk von Gabriel. Er hatte die SPD in einen betonten Links-Wahlkampf gedrückt: Statt mit dem wirtschaftskompatiblen „KanzlerkandidatenPeer Steinbrück um die Mitte der Gesellschaft zu kämpfen, umwarb er – erfolglos – den Teil der 10 Millionen seit Kanzler Schröder der SPD abhanden gekommenen Wähler, die weiter nach links abdrifteten. Die damit gestärkten Geister von noch mehr Gleichheit und Gerechtigkeit, Umverteilung und Staatseinfluss wird er nun schwer los.

SPD-Abstimmung

Um sie ruhig zu stellen, erfand Gabriel die erste Basis- Abstimmung zum ausverhandelten Koalitionsvertrag. Damit vergrößerte er aber das SPD-Dilemma: Es ist völlig offen, wie viele der 473.000 Mitglieder per Brief abstimmen – und wie: Letzte Umfragen unter SPD-Wählern sehen „Pro“ nur leicht stärker als „Contra“. Die Mitglieder gelten aber als weiter links als die Wähler.

Seit gestern trommeln Gabriel und sein Vorstand daher in SPD-Regionalversammlungen für den neuerlichen Stimmungsumschwung: Mit Eingeständnissen „schwerer Fehler im Wahlkampf“ – und dem nun denkbar kritischen Blick auf die Linke.

Gut möglich, dass letztlich nur wenige Tausend Genossen die Zukunft des 81-Millionen-Landes entscheiden – und die der SPD wie der „Linken“ sowieso.