Politik/Ausland

Kevin Kühnert: SPD soll nicht Merkels Leibgarde sein

Man könnte meinen, um Kevin Kühnert ist es ruhiger geworden. Aber, nein. Sein Kalender ist weiter voll mit Terminen zu Diskussionen, wie er sie schon vor Monaten im Dauertakt bestritt. Als erklärter Gegner der Großen Koalition kämpfte der Chef der SPD-Jugendorganisation (Juso) für die Erneuerung seiner Partei und gegen einen Eintritt in die Regierung mit der Union. Wie die Geschichte ausging ist bekannt: Die SPD befragte ihre Mitglieder, die dann grünes Licht für das Bündnis mit der Union gaben. Nun droht es wegen des Streits zwischen CDU und CSU auseinanderzubrechen. Sollte es so weit kommen, würde der 28-Jährige wohl wieder in den Ring steigen - und müsste auf seinen Sommerurlaub erst einmal verzichten.

KURIER: Nach 100 Tagen droht der Großen Koalition das Aus, was Sie vielleicht nicht überrascht. Fällt es schwer, das dem Parteivorstand nicht unter die Nase zu reiben?

Kevin Kühnert: Das kann man sich verkneifen, weil es nichts bringt. Was jetzt passiert, habe ich so nicht kommen sehen. Ich hätte gedacht zwischen SPD und Union wird es schwierig, aber dass sich die Union nach 100 Tagen fast zerlegt und die CSU so einen krassen Kurs fährt, war nicht absehbar.

Bis auf einige Vernunftsappelle verhält sich Ihre Partei im Streit um die Asylpolitik sehr ruhig, vertut sie da eine Chance?

Es ist Ausdruck davon, dass wir viele Klärungsprozesse laufen haben. Und die Frage, wie wir mit der Migrations- und Asylpolitik umgehen, gehört mit dazu. Klar, bei uns fordert niemand Grenzen dicht, aber wie offen man sich am Ende zeigt, ist ungeklärt. Die Parteispitze lässt sich aber aus guten Gründen nicht auf eine Spiegelstrichdebatte über die Grenzsicherung ein, denn darum geht es nur auf den ersten Blick. Sie stellt das Thema Europa lieber in den Mittelpunkt, weil es da einen klaren Konsens gibt: Alles, was Europa beschädigt, ist für uns nicht akzeptabel. Diese Positionierung unterstütze ich voll und ganz.

Steht der SPD die Zerreißprobe noch bevor?

Das ist zu hoch gegriffen. Was die Unionsparteien durchmachen, passiert in allen politischen Spektren. In der Union geht es um die Frage Migration: Ja oder Nein? In der politischen Linken geht es, so formuliert es Sahra Wagenknecht, darum: Muss man das Zeitalter der Identitätspolitik überwinden, bzw. haben wir zu viel über Schwule, Lesben, Frauen und Migranten gesprochen und zu wenig über Umverteilung und gute Arbeitsplätze? Das halt ich für eine falsche Analyse, weil sie so tut, als sei das ein Widerspruch. Es ist eine Vereinfachung, die uns nicht helfen wird.

Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel meinte im „Tagesspiegel“, ausgerechnet er als Sozi könne nur hoffen, dass Merkel Kanzlerin bleibt.

Den meisten bei uns ist das Schicksal von Angela Merkel relativ egal. Was jetzt passiert, liegt nicht an der SPD: Es kann platzen, weil die Unionsparteien auseinandergehen. Wir sollten am Ende nicht ihre letzte Leibgarde sein, nachdem ihre Leute schon von der Fahne gegangen sind. Wenn es nichts mehr Gemeinsames gibt, ist es ehrlicher zu sagen, man geht auseinander.

Ihre Partei beschäftigt sich mit Neuwahlen – würde sie das, wo sie mitten im Erneuerungsprozess steckt, kalt erwischen?

Keine Partei ist jetzt bombastisch darauf vorbereitet. Wir müssten es als Stärke begreifen, wie man aus so einem krassen politischen Konflikt in eine Neuwahl geht. Und ein Thema über das wir sprechen müssen liegt schon auf der Straße: Wir reden seit Jahrzehnten von europäischer Einigungspolitik, einem Zusammenwachsen – und gehen dann zurück in den Nationalstaat? Oder verteidigen wir, was wir in Europa haben und erweitern das um eine soziale Säule?

Der Streit überlagert derzeit alles. Die SPD macht Regierungsarbeit, aber niemand bekommt etwas mit. Bei Neuwahlen fliegt ihr das auf den Kopf.

Mir gefällt, was die SPÖ gerade macht: knallhartes Campaigning zu Themen, die der Regierung unangenehm sind. Was in Österreich Fragen zum Zwölf-Stunden-Tag sind, müssen bei uns welche zur Rente sein oder Digitalisierung. Das betrifft alle hier, aber in der Großen Koalition findet keine öffentliche Debatte statt. Klar, wir haben einen Koalitionsvertrag, wir können das nicht sofort ändern. Aber die nächste Bundestagswahl kommt, ob das im Herbst ist oder in drei Jahren ist egal. Wenn wir Mehrheiten bekommen wollen, müssen wir das vorbereiten. Und die Unterschiede zur Union so ausarbeiten, dass es auch durchschnittlich interessierte Leute am Schirm haben.

Wenn ab Montag die Zeichen auf Wahlkampf stehen: Für welche drei Themen müsste die SPD stehen, um gewählt werden?

Europa vorne weg, das ist das Thema der Zeit, das gilt es zu verteidigen. Das zweite ist für mich die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland. Wir schieben das seit 15 Jahren vor uns her. Und bald kommt der Punkt. wo wir uns entscheiden müssen: Sind die noch zu retten oder geben wir den Anspruch auf, das andere Menschen Sicherung erfahren. Wenn es nicht die SPD macht, sehe ich keine andere politische Kraft da, die es tut - das ist unser Alleinstellungsmerkmal. Das dritte Thema: Investitionen in die Zukunft. Alle reden über Digitalisierung und über die beste Bildung der Welt, die manche Parteien gerne herstellen wollen. Das kostet Geld und glaube, wir müssen einen Investitionswahlkampf führen.

Auch wenn Wahlen ausbleiben: Die CSU ist weit nach rechts gerückt, in einer Allianz mit rechtsnationalen bzw. rechtskonservativen Ländern. Wo bleiben die Sozialdemokraten?

Die ganze europäische Sozialdemokratie muss aus dem Rückzugsmodus raus. Die Zeit wird knapp, um europaweit eine starke Kampagne hinzukriegen. Unsere Aufgabe ist es, eine Auseinandersetzung um das WIE zu führen. Wir dürfen nicht nur mit Europafahnen und „Freude schöner Götterfunken“ in die Europawahl ziehen. Wir müssen sagen, was wird mit uns besser in Europa: Mindestlöhne, Besteuerungsfragen. Also Fortschritte für jene aufzeigen, für die Erasmus-Semester oder kein Anstehen beim Grenzübergang nicht zählen, weil sie es sich nicht leisten können.

Hinweis: Kevin Kühnert diskutiert heute um 19 Uhr im Bruno-Kreisky-Forum Wien über die Zukunft der Sozialdemokratie.