Maßstab für respektvolles Miteinander
Es war die erste Rede von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker an die Union – und die Rede hatte es in sich: Vor den EU-Abgeordneten analysierte der Christdemokrat konstruktiv-kritisch die aktuelle Lage der EU – "sie ist in keinem guten Zustand, wir befinden uns in einem entscheidenden Moment der Entwicklung". Damit meinte er nicht nur die akute Flüchtlingskrise, sondern auch die immer noch sehr hohe Arbeitslosenrate, die Schwäche Griechenlands und die außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen durch den Bürgerkrieg in Syrien und die Konflikte in der Ukraine.
Die Zusammenschau an vielfältigen Problemen führte den Abgeordneten und den Regierung vor Augen, was noch zu tun ist. Entschieden verlangte Juncker eine verbindliche Quote für die Aufnahme von insgesamt 160.000 Flüchtlingen aus Griechenland, Italien und Ungarn. Gegner dieser solidarischen Aufteilung – Polen, Ungarn, Tschechien – erinnerte er daran, dass auch sie in der Vergangenheit starke Fluchtbewegungen hatten. Noch in diesem Jahr soll der Schutz und die Kontrolle der EU-Außengrenze verstärkt werden, auch EU-Geld wird es dafür geben.
Druck machte der Kommissionspräsident auf die Mitgliedsländer, sich an gemeinsame Asylstandards zu halten. Und Asylwerbern sofort in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Bemerkenswert ist, dass Juncker die Möglichkeit, Länder, die sich nicht an die faire Quotenverteilung halten, zu bestrafen, nicht erwähnt hat. Er setzt im Hintergrund auf Gespräche mit den Quoten-Gegnern und hofft auf ein Einlenken. Ausdrücklich bedankte er sich bei den vielen freiwilligen Helfern in Deutschland und Österreich. Alles in allem – Juncker hat eine gelungene, perspektivische Rede gehalten ohne jene zu beschuldigen, die sich „nicht solidarisch und europäisch verhalten“. Mit seiner Forderung der verpflichtenden Quote und dem Recht auf Arbeit für Asylwerber hat er die gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik der EU ein großes Stück weitergebracht. Und er hat mit seinem verbindlichen Ton einen Maßstab für ein respektvolles Miteinander gesetzt. „Wir müssen an einem Strang ziehen“, sagte er am Ende seiner Rede.