Jesiden: "Lasst uns einfach leben"
Von Stefan Schocher
Hadi presst die Worte aus sich heraus. Er macht lange Pausen mitten im Satz. Das sind die Momente, wenn dem groß gewachsenen, muskulösen Mann um die 30 die Tränen in die Augen schießen, wenn ihm die Stimme versagt. Freunde klopfen ihm auf die Schultern, und sprechen für ihn die Sätze zu Ende. Es sind Geschichten von Mord an Kindern, Vergewaltigung und Versklavung, die er zu erzählen hat. An diesem Morgen, nachdem die kurdischen Peschmerga über Nacht das Sinjar-Gebirge geräumt hatten und der IS kam. Als Nachbarn über sie herfielen. Frauen und Kinder verschleppten, Männer töteten. Hadi wird laut, bevor ihm die Stimme versagt. Und die Männer um ihn nicken schweigend.
Hadi ist Jeside, kommt aus dem Sinjar-Gebirge und hat sich über kaum nachvollziehbare Wege, die er selbst fast nicht wiedergeben kann, in die Türkei geflüchtet. In der Gegend um Diyarbakir lebt er in einem Lager. Ein einstiger Picknickpark der Stadtverwaltung, heute eine unüberschaubare Ansammlung Hunderter Zelte. 5000 Menschen leben hier, alle Jesiden. Das UNHCR hat sich ihnen, wie ein Lagerverwalter sagt, noch nicht gezeigt. Papiere haben sie nicht, registriert wurden sie zwar laut der lokalen Regierung, wie Hüseyin Aksoy, Gouverneur der Provinz Diyarbakir, sagt. Hadi weiß davon nichts.
Es war Anfang August, als der IS die Region um den Sinjar-Bergkamm angriff. Ohne Vorwarnung waren die irakisch-kurdischen Peschmerga über Nacht aus der Region abgezogen. "Wir sind in der Früh aufgewacht, und die IS-Leute waren in den Straßen", sagt Hadi. Viele Jesiden flüchteten in die Berge, wurden monatelang belagert, über einen riskanten Korridor aus Syrien kam spärlich kurdischer Nachschub aus dem Norden. Dieser Korridor ist wieder zu, der Berg und damit Tausende Zivilisten sind völlig abgeschnitten. Andere Jesiden flüchteten in kurdische Gebiete weiter östlich im Irak. Die Kurden im äußersten Nordosten Syriens, die einige Zeit noch Zugang zum Sinjar-Gebirge hatten, sind selbst in der Defensive. Es gibt Hinweise auf eine große Offensive des IS.
Ausgeliefert
"Man hat uns überlistet, die Peschmerga haben uns an den IS ausgeliefert, unsere arabischen Nachbarn haben uns abgeschlachtet – nur die PKK hat uns geholfen", sagt Hadi. Mit PKK meint er die mit der Kurdischen Arbeiterpartei verbündeten kurdischen Milizen, die im Norden Syriens um ihre Selbstverwaltung kämpfen. In der Tat gab es für den überhasteten Abzug der Peschmerga ohne Vorwarnung keine schlüssige Erklärung. "Wir werden nicht zurückgehen, niemals, nie. Auch wenn wir hier sterben – dort sterben wir ganz sicher", sagt er. Schweigendes Nicken der Männer rundum. "Es ist falsch zu sagen, dass der IS zu uns gekommen ist. Wir haben immer schon mitten unter ihnen gelebt – diese Leute haben unsere Kinder vor unseren Augen getötet, jetzt verkaufen und vergewaltigen sie unsere Frauen", sagt Hadi. "Heute werden wir im Namen des IS getötet, das nächste Mal kommen sie unter anderem Namen." Wieder Nicken. Einer sagt: "Wir werden nie mehr wieder zurückkommen können."
Das Lager der Jesiden steht unter der Verwaltung eines Gemeindebundes, der für solche Lager aber keine Budgethoheit hat. Hilfe aus Ankara, so Aktivisten und Regionalpolitiker, kommt nicht. Unter ihnen herrscht der Vorwurf, den auch Flüchtlinge bestätigen. Der, dass es unter jenen, die vor den Kriegswirren im Irak und in Syrien fliehen, mindestens vier Klassen gibt: sunnitische Araber, irakische Kurden, syrische Kurden, die in der Türkei wegen möglicher PKK-Verbindungen als Gefahr betrachtet werden, und Jesiden, auf die völlig vergessen werde – während viele syrische Sunniten vor den Wahlen rasch eingebürgert worden seien.
"Fragen sie das UNHCR, wieso es noch nicht in diesem Lager war?", fragt Gouverneur Aksoy. "Fragen sie die türkische Regierung, wieso sie uns hier uns selbst überlässt", fordern jesidische Flüchtlinge. Vertreter des UNHCR sehen die UNO wiederum von Ankara übergangen. Ankara reiße die Organisation der Lager an sich – aber nur, wie Aktivisten in der Osttürkei sagen, wo die AKP einen Vorteil sehe.
Ums nackte Überleben"Lasst uns einfach alle in Ruhe", sagt Hadi. "Lasst uns einfach leben – ist das zu viel verlangt?" Schweigendes Nicken. Einer legt eine Hand auf Hadis Schulter. 5000 Menschen leben in diesem Lager. 5000 Geschichten von Tod und Gewalt. Vor der Lagerverwaltung stehen Kinder mit Transparenten. "Wo ist meine Mutter", steht da. Mütter, Väter, Brüder, Schwestern sind tot, wurden verschleppt, versklavt, vergewaltigt, sind verschwunden. Für ihre Hinterbliebenen geht es ums nackte Überleben.