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Istanbul: Duell um das Bürgermeisteramt

Die Autos stauen sich auf der Straße vor der Moschee, in den Imbissbuden sitzen Arbeiter beim Mittagessen, Hausfrauen in islamischen Kopftüchern kaufen für ihre Familien ein. In Kasimpasa, dem Istanbuler Heimatviertel des türkischen Präsidenten Tayyip Erdoğan und einer Hochburg seiner AKP, scheint die Welt in Ordnung. Erdoğans Bürgermeisterkandidat Binali Yildirim wird bei der Wiederholung der Wahl zum Stadtoberhaupt am Bosporus am kommenden Sonntag Kasimpasa eine satte Mehrheit holen. Doch im Rest der Stadt sieht es anders aus. Yildirim, der sich am vergangenen Sonntag ein Fernsehduell mit dem Oppositionskandidaten Ekrem Imamoglu lieferte, überzeugt längst nicht alle Istanbuler.

Viele Freunde

Yildirim, 63 Jahre alt und ein ergebener Gefolgsmann von Erdoğan, der schon Minister- und Parlamentspräsident war, hat im islamisch-konservativen Kasimpasa viele Freunde. „Der Imamoglu hat doch nichts zu bieten“, sagt Osman Nur Öner, der an der Hauptstraße des Viertels einen Handy-Laden betreibt. Außerdem habe Imamoglu bei der regulären Wahl am 31. März 2019 seinem Gegner Yildirim viele Stimmen gestohlen.

Märzwahl annulliert

Öners Sicht der Dinge liegt ganz auf der Linie von Erdoğans AKP. Sie sagt, Imamoglu habe im März zwar gegen Yildirim gewonnen, aber nur mit einem Vorsprung von weniger als 14.000 Stimmen in einer Stadt mit zehn Millionen registrierten Wählern. Und dieser Vorsprung sei auch nur durch Unregelmäßigkeiten bei der Stimmauszählung zustande gekommen. Mit diesen Argumenten setzte die AKP bei der Wahlkommission in Ankara die Wiederholung der Wahl am 23. Juni durch.

Nun stehen sich Yildirim und der 48-jährige Imamoglu erneut gegenüber. Beim ersten Wahl-Fernsehduell zweier türkischer Spitzenpolitiker seit fast 20 Jahren versuchten sie, die Wähler auf ihre Seite zu ziehen. Beide versprachen eine grünere Stadt, mehr Geld für Bedürftige und mehr Investitionen.

Derzeit sehen die stadtweiten Umfragen Imamoglu vorne: Er kann von der Verärgerung vieler Wähler über die AKP profitieren, der unter anderem Korruption und Vetternwirtschaft vorgeworfen werden. Yildirim steht dagegen für ein „weiter so“. Schließlich regieren die AKP und ihre Vorgängerparteien die größte Stadt der Türkei seit 25 Jahren. Der Siegeszug begann mit Erdoğans eigener Zeit als Bürgermeister im Jahr 1994.

Kasimpasa war die Ausgangsbasis für Erdoğans Aufstieg. Hier wuchs er als Sohn einer kleinbürgerlichen Familie auf, die vom Schwarzen Meer nach Istanbul gekommen war. Hier spielte er Fußball – das Stadion von Kasimpasa trägt seinen Namen – und entwickelte seine politische Weltsicht, die islamische Frömmigkeit, den Glauben an die Macht der Marktwirtschaft und autoritäre Tendenzen miteinander verbindet.

Heimspiel

Erdoğan hat sehr viel Gutes für dieses Land getan“, sagt Sebil, ein Melonenhändler in Kasimpasa. Er sitzt vor einer ganzen Lastwagenladung von Melonen, die gerade aus dem südtürkischen Adana geliefert worden ist. In der Hitze des Istanbuler Frühsommers kann Sebil auf gute Geschäfte hoffen.

Doch der rechte Enthusiasmus für die neue Wahl kommt selbst in Kasimpasa nicht auf, obwohl auch Yildirim einen Teil seiner Kindheit hier verbracht hat. Der Kandidat hat sich bisher nur einmal blicken lassen.

Keine Hilfe von Erdoğan

Die Wiederholung des Urnengangs wird auch von Regierungsanhängern als ungerecht empfunden. Sogar Yildirims Ehefrau Semiha äußerte Zweifel: „Auch wir waren nicht sehr dafür“, sagte sie der Internetzeitung Habertürk mit Blick auf die Wahlwiederholung. Die neue Wahl sei für sie selbst, ihren Mann und die Wähler „eine Qual“. Unbändige politische Kampfbereitschaft spricht aus diesen Worten nicht gerade.

Der Mangel an Begeisterung mag zum Teil daran liegen, dass Erdoğan als der eigentliche Star der AKP im Wahlkampf vor dem 23. Juni nicht auftreten wollte. Ursprünglich hatte der Präsident und AKP-Vorsitzende geplant, in allen 39 Bezirken der 16-Millionen-Stadt für Yildirim zu werben. Doch nun ließ der Staatschef über die regierungsfreundliche Presse verbreiten, er halte sich aus dem Wahlkampf heraus.

Stammwähler im Fokus

AKP-Anhänger in Kasimpasa wissen nicht so recht, was sie von der plötzlichen Zurückhaltung des Präsidenten, der seit 2002 noch nie einem wichtigen Wahlkampf ferngeblieben ist, halten sollen. „Vielleicht ist es ja besser so“, sinniert Handy-Verkäufer Öner, „vielleicht denken die Leute ja, ,was geht ihn die Wahl an, er ist ja Präsident‘“, sagt er.

Ohne Erdoğan, der beliebteste Politiker der AKP und ihr bester Redner, hat die Regierungspartei noch nie einen Wahlkampf geführt. Das macht es der Partei besonders schwer, am Sonntag möglichst alle ihre Stammwähler an die Urnen zu bringen. Nur dann hat Yildirim, der von der AKP und der rechtsgerichteten Partei MHP unterstützt wird, eine Chance auf den Sieg.

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Bleibt die Massen-Mobilisierung der AKP aus, dürfte Yildirims Gegner Imamoglu von den Wählern seiner eigenen Partei, der säkularen CHP, sowie anderen Oppositionsanhängern und besonders den 1,5 Millionen vorwiegend AKP-kritischen Kurden in Istanbul zu einem neuen Sieg getragen werden. Unter Imamoglus Motto „Alles wird gut“ sammeln sich all jene, die Erdoğan und der AKP wie schon im März einen Denkzettel verpassen wollen. Nach mehr als 16 Jahren der AKP-Regierung in der Türkei sind das sehr viele Wähler.

Mehr Außenpolitik?

Deshalb bleibt in Kasimpasa und anderswo in Istanbul die entscheidende Frage dieser Wahl vorerst unbeantwortet: Wie wird Erdoğan reagieren, sollte Imamoglu erneut gewinnen? Wird er dann wieder das Wahlergebnis anzweifeln? Manche Beobachter nehmen an, dass der Präsident eine neue Niederlage anerkennen und sich in Zukunft mehr auf die Außenpolitik konzentrieren könnte. Nur fünf Tage nach der Istanbuler Neuwahl fliegt Erdoğan zum G20-Gipfel nach Japan.