Ist das das Ende für den Flüchtlingspakt?
Von Karl Oberascher
Er war Angela Merkels lang ersehnte Antwort auf das Flüchtlingsproblem. Der Pakt mit der Türkei sollte verhindern, dass weiter ungehindert Tausende Flüchtlinge über die Ägäis nach Griechenland übersetzten und damit Anrecht auf ein Asylverfahren in der EU erwarben. Und das tat er auch.
Der Preis, den die deutsche Kanzlerin dafür zahlte, war jedoch ein hoher. Das Flüchtlingsabkommen wurde zu Recep Tayyip Erdogans Rasselinstrument im diplomatischen Streit mit der EU. Mit dem Abkommen in der Hinterhand schreckte der Autokrat auch vor veritablen verbalen Rülpsern, bis hin zu Nazi-Vergleichen, nicht zurück. Bisher war es jedoch stets bei Drohungen im diplomatischen Dauerkonflikt geblieben. Am Mittwochabend setzte Außenminister Mevlüt Cavusoglu das Flüchtlingsabkommen nun tatsächlich aus - zumindest teilweise. Derzeit würden keine Flüchtlinge mehr von den griechischen Inseln zurückgenommen werden, sagte Cavusoglu.
Steht das Flüchtlingsabkommen also vor dem Aus? Gerald Knaus, Vorsitzender des Migrationsforschungsinstituts Europäische Stabilitätsinitiative (ESI) und bekannt als Architekt hinter dem Flüchtlingsabkommen, glaubt nicht daran. Dies sei "weder im Interesse Ankaras noch in dem der EU", sagte er gegenüber der deutschen Welt.
Was hat die Türkei von dem Abkommen?
Denn Ankara wird im Gegenzug für die Zusage, seine Grenzen zu sichern und in Griechenland gestrandete Flüchtlinge zurückzunehmen reichlich entlohnt. Wenn das Abkommen am Samstag sein Ein-Jahr-Jubiläum feiert, wird die Türkei 2,2 Milliarden Euro von der EU bekommen haben. Drei Milliarden zur Versorgung der Flüchtlinge im Land (hier finden Sie eine Liste von mit EU-Geldern finanzierten Projekten) sind insgesamt zugesagt. Drei Milliarden, die das wirtschaftlich schwächelnde Land dringend gebrauchen kann. Zumal die Gegenleistung - jedenfalls auf den ersten Blick - verhalten ausfällt: 916 Flüchtlinge wurden mit Stichtag 10. März von der Türkei zurückgenommen, im Gegenzug dafür kamen 3792 syrische Flüchtlinge direkt und offiziell in die EU (hier finden Sie die wichtigsten Eckpunkte des Abkommens).
In der Türkei selbst befinden sich jedoch noch immer 2,7 Millionen Flüchtlinge aus Syrien. Viel wichtiger als der Flüchtlingsaustausch - und die nunmehr ausgesetzte Rücknahme von Flüchtlingen durch die Türkei - sind denn auch die Ankunftszahlen in Griechenland, die seit der Vereinbarung dramatisch gesunken sind. Kamen allein im Jänner und Februar 2016 laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR noch 124.500 Flüchtlinge in Griechenland an, waren es in den ersten beiden Monaten dieses Jahres nur 2480 - das entspricht einem Rückgang um 98 Prozent.
Hat der Flüchtlingsdeal bis dato seinen Zweck also erfüllt? Das Problem liegt im Detail: Weil die griechischen Behörden die Türkei nicht als sicheres Drittland einstufen, werden jene Flüchtlinge, die auf den griechischen Inseln landen, von dort aus nicht zurückgeschickt. Auf das griechische Festland dürfen nur jene, die Asyl erhalten. Sprich: es staut sich gewaltig. Aktuell befinden sich nach wie vor rund 14.300 Migranten auf den Inseln Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos.
"Abschreckung durch schlechte Behandlung"
Noch immer sind die Zustände in den Lagern schwierig. Im September legten Flüchtlinge aus Protest gegen die Lebensbedingungen auf Lesbos ein Feuer, das weite Teile der Anlage in Moria verwüstete. Politikberater Knaus wirft der EU deshalb vor, die Lage auf den griechischen Inseln absichtlich eskalieren zu lassen. "So setzt die EU auf die australische Lösung: Abschreckung durch schlechte Behandlung. Das ist ein Rechtsbruch." Die EU habe klare Vorgaben, wie Menschen behandelt werden müssten, "auch Asylantragsteller".
Bleibt die Frage, ob Ankara das gesamte Flüchtlingsabkommen platzen lassen will, wie es nicht erst seit dem Streit um die Wahlkampfauftritte türkischer Minister wieder im Raum steht. Vor dem Rücknahmestopp drohte Ankara bereits damit, die Landgrenzen Richtung EU zu öffnen. Es wäre der nächste Eskalationsschritt. Betroffen wären die Übergänge nach Griechenland und Bulgarien. Europaminister Ömer Celik stellte zuletzt aber klar, dass Ankara die Abriegelung der Route über die Ägäis - jedenfalls aktuell - nicht in Frage stellt, weil die Überfahrt für Flüchtlinge zu gefährlich sei. Kommt es dazu, wäre das de facto das Ende des Türkeiabkommens.
Erpressbar habe sich die Europäische Union durch das Abkommen aber nicht gemacht, meint Knaus. "Nichts hindert die EU daran, die Menschenrechtslage in der Türkei zu kritisieren." Sollte der Deal aber platzen, dann würde die Lage auf den griechischen Inseln "unhaltbar" und in dem Land drohe eine "humanitäre Katastrophe". Wenn jetzt im Frühling, bald wieder statt 50 doch wieder 200 Flüchtlinge am Tag kommen, dann bricht das System zusammen, warnt Knaus. "Die Situation ist fragil." Er fordert daher den Aufbau europäischer Asylmissionen vor Ort. Diese sollten innerhalb von vier Wochen entscheiden, ob ein Migrant Asyl bekommt oder nicht.
Verstärkter Grenzschutz
Unabhängig von der Türkei, hat inzwischen jedoch auch die EU nachgeschärft. Die EU-Grenz- und Küstenschutzbehörde Frontex ist seit Dezember vergangenen Jahres mit einer Reserve von 1500 Beamten, die in Krisenfällen kurzfristig verlegt werden können, in der Ägäis im Einsatz.
Bulgarien hat zudem seit 2014 einen Zaun zur Türkei errichtet, der mittlerweile 176 von 259 Kilometern Grenze abdeckt. Auch Griechenland hatte schon 2012 einen elf Kilometer langen Stacheldrahtwall am Grenzfluss Evros gebaut - damals sogar mit Millionenhilfe der Türkei. Wie die Erfahrungen mit den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Marokko zeigen, wo auch ein sechs Meter hohes HighTech-Bollwerk Flüchtlinge nicht aufhält, sind solche Zäune aber bestenfalls eine Notlösung. Sind die Menschen erst auf EU-Territorium, können sie auch nicht mehr einfach zurückgeschickt werden, sondern haben ein Recht auf Prüfung ihrer Asylanträge.
Wo hakt es noch?
Dass das Flüchtlingsabkommen auch ein Jahr nach Inkrafttreten noch immer nicht reibungslos funktioniert, liegt aber nicht nur am türkischen Säbelrasseln auf diplomatischer Ebene. Noch immer kritisieren Hilfsorganisationen, dass die Asylverfahren viel zu lange dauern. Noch immer kommen zu wenige Flüchtlinge legal nach Europa. Die 3.792 syrischen Flüchtlinge, die zwischen April 2016 und März 2017 regulär von der Türkei in die EU reisten, wie es das Abkommen vorsieht, sind letztlich ein Tropfen auf dem heißen Stein. Dass Österreich davon keinen einzigen aufnahm, Deutschland mit 1403 die meisten, ist wohl auch der politischen Großwetterlage geschuldet. Angela Merkel hat als Schirmherrin das größte Interesse am Funktionieren des Abkommens (die genauen Zahlen finden Sie hier).
Und noch immer funktioniert die Verteilung innerhalb der EU mangelhaft bis gar nicht. Geplant war die Umsiedlung von 160.000 Flüchtlingen, bisher sind aber lediglich rund 12.000 Personen von Griechenland und Italien in EU-Binnenländer umverteilt worden. Der Beschluss wurde im September 2015 gefasst - und würde bei der aktuellen Geschwindigkeit noch 86 Jahre brauchen, um umgesetzt zu werden. Das Dublin-Verfahren mag mit dem Flüchtlingsabkommen nichts zu tun haben - geht es dabei doch um das Asylverfahren innerhalb der EU - der Deal mit der Türkei hat aber die Handlungsdringlichkeit reduziert.
Wieso gibt es noch keine Visa-Freiheit für Türken?
Und das sind noch immer nicht die einzigen Schönheitsfehler des Flüchtlingsabkommens. Aus der Sicht Erdogans ist die EU nämlich nach wie vor eine wichtige Zusage schuldig geblieben: die in Aussicht gestellte Visa-Freiheit für türkische Staatsbürger, die seit dem gescheiterten Putschversuch vom Juli vergangenen Jahres und den darauf folgenden Verhaftungswellen hintan gehalten wird. Solange die Türkei die weit gefassten Anti-Terrorgesetze nicht ändern will, wird es keine Visa-Freiheit geben, heißt es seitdem.
Gerald Knaus sieht im KURIER-Interview gerade in der Frage der Visa-Freiheit zuletzt einen "entscheidenden Hebel", mit dem die EU eine Verbesserung der Menschenrechte erreichen könnte und ihren Einfluss in der Türkei erhöhen könnte.
"Null-Toleranz-Politik bei Folter"
Verpflichtet sich die Türkei, den Erfolg des EU-Türkei Abkommens zu garantieren, und jede Rückkehr zur Folter zu unterbinden, sollte die EU die Visapflicht für Touristen aufheben, fordert Knaus. Dazu müsse die EU zunächst aber klare Bedingungen stellen. "Erstens muss die Türkei, nachweisbar für jeden der von Griechenland in die Türkei zurückgebracht wird, ein sicherer Drittstaat sein." Das sei erreichbar, es gehe um einige tausend Menschen, und entspreche dem türkischen Recht. "Doch es muss kontrollierbar sein." Und zweitens müsse sich die Türkei verpflichten, das absolute Verbot von Folter und Misshandlungen in allen Gefängnissen zu garantieren, die Straffreiheit für Staatsbedienstete für Handlungen im Kampf gegen Terrorismus aufheben und der Anti-Folter-Kommission des Europarats nicht nur zugestehen, alle Gefängnisse zu besuchen, sondern auch, diese Berichte öffentlich zu machen.
"Es geht um eine Null-Toleranz-Politik bei Folter. Überdies ist es nicht vorstellbar, dass etwa eine deutsche Regierung für die Aufhebung der Visapflicht stimmt, solange deutsche Staatsbürger das Land nicht verlassen können oder wie Deniz Yücel im Gefängnis sind", sagt Knaus.
Ein solches Manöver könnte der EU wieder etwas Handlungsspielraum zurückgeben. Denn "derzeit ist es so, dass die EU Änderungen im Anti-Terror-Gesetz fordert, die de facto wohl gar nichts bewirken würden: In einem Ausnahmezustand, wie er aktuell in der Türkei in Kraft ist, sind solche Bestimmungen ohnehin weitgehend außer Kraft", sagt Knaus. So wie sich die Gerichte in der Türkei verhalten, "hätten sie nicht einmal mit dem schwedischen Anti-Terror-Gesetz ein Problem, Leute hinter Gitter zu bringen."
Kann das Flüchtlingsabkommen zur Blaupause für Nordafrika werden?
Fazit nach einem Jahr Flüchtlingsabkommen mit der Türkei: Es funktioniert(e) - trotz aller Probleme auf diplomatischer Ebene. Das Flüchtlingsproblem selbst ist damit aber in keinster Weise gelöst. Im letzten Jahr ist die Zahl derjenigen, die über das zentrale Mittelmeer gekommen sind, um 30.000 Menschen gestiegen. Zudem sind dort über 5.000 Menschen ertrunken, so viele wie noch nie zuvor, eine humanitäre Katastrophe. Um die Zahl irregulär ankommender Flüchtlinge zu reduzieren, wandte sich Angela Merkel erst im Februar auch an Libyen - es ist dies der nächste logische, wenn auch umstrittene Schritt. Denn wenn die Türkei schon nicht als sicherer Drittstaat einzuschätzen ist, trifft das auf den Failed State Libyen, wo der sogenannte Islamische Staat zuletzt weite Gebiete erobern konnte, erst recht nicht zu.