Israel und Hamas lassen die Waffen sprechen
Nach einer humanitären Feuerpause am Samstag haben sich Israel und die radikalislamische Hamas am Sonntag wieder heftige Gefechte geliefert. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu warf der Hamas den Bruch einer von ihr verkündeten weiteren 24-stündigen Waffenruhe vor und kündigte eine Fortsetzung des Militäreinsatzes an. Weltweit wurde eindringlich ein Ende des Blutvergießens gefordert.
Angesichts des palästinensischen Bruchs der Waffenruhe werde Israel "alles Notwendige" zur Verteidigung seiner Bevölkerung tun, sagte Netanyahu am Sonntag. Israel werde es nicht zulassen, dass "eine skrupellose Terrororganisation entscheidet, wann es ihr genehm ist, einen Moment Pause zu machen, sich wiederzubewaffnen und dann erneut auf unsere Bürger zu schießen".
Die Hamas hatte zuvor eine 24-stündige Waffenruhe ausgerufen, die ab 13.00 Uhr MESZ gelten hätte sollen. Allerdings dauerte der Raketenbeschuss vom Gazastreifen Richtung Israel danach an, es gab zahlreiche Explosionen. Nach israelischen Armeeangaben schlugen nach der Verkündung der Waffenruhe mindestens 22 Raketen in Israel ein, fünf weitere wurden demnach abgefangen.
Völkerrechtsexperten: "Kollektivstrafe"
Unterdessen verurteilten 119 internationale Völkerrechtsexperten, Professoren, Richter und Anwälte das Vorgehen im Gazastreifen und warfen Israel schwere Menschenverletzungen an der gesamten palästinensischen Bevölkerung vor. Die meisten Bombardierungen könnten nicht militärisch gerechtfertigt werden. "Stattdessen scheinen sie darauf ausgerichtet zu sein, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren", schrieben die Experten in einer Stellungnahme am Sonntag. Israel verletze damit die fundamentalsten Gesetze in bewaffneten Konflikten - vor allem das Gesetz der Verhältnismäßigkeit.
Die Experten, darunter die beiden früheren UNO-Berichterstatter für die besetzten Palästinensergebiete, Richard Falk und John Dugard und der renommierte Völkerrechtsprofessor und Richter Georges Abi-Saab, fordern neben einem Ende der Kämpfe die Bestrafung der militärischen und politischen Verantwortlichen, sowie eine Überweisung der Lage in Palästina an der Internationalen Strafgerichtshof.
Kein Zusammenleben mit "Besatzern"
Hamas-Führer Khaled Maschaal sagte dem US-Fernsehsender PBS, Israel müsse die Blockade des Gazastreifens aufheben. "Wir bekämpfen nicht die Juden, weil sie Juden sind, wir bekämpfen keine anderen Rassen, wir bekämpfen die Besatzer", sagte er. Ein Zusammenleben zwischen Israelis und Palästinensern sei möglich, nicht aber ein Zusammenleben mit "Besatzern".
Traurige Zwischenbilanz
Auf israelischer Seite wurde in der Nacht zum Sonntag ein weiterer Soldat an der Grenze zum Gazastreifen getötet. Damit starben inzwischen 43 israelische Soldaten. Zudem wurden drei Zivilisten in Israel getötet. Die Zahl der verletzten Palästinenser liegt bei etwa 6.000.
"Macht halt, ich bitte Euch! Macht halt!", Appell von Papst Franziskus
Laut einem US-Regierungsvertreter verhandelte Außenminister John Kerry weiter mit beiden Seiten über eine Reihe kürzerer Feuerpausen, um zu einem langfristigen Waffenstillstand zu gelangen. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon rief zu einer einwöchigen Feuerpause auf. Auch die Außenminister der USA, Frankreichs, Deutschlands, Großbritanniens, Italiens, Katars und der Türkei forderten bei einer Konferenz in Paris ein Ende des Blutvergießens. Auch Papst Franziskus rief zu Frieden auf. "Macht halt, ich bitte Euch! Macht halt!", appellierte der Papst auch mit Blick auf die Ukraine und den Irak.
US-Präsident Barack Obama nannte in einem Telefonat am Sonntag mit Benjamin Netanyahu eine sofortige und bedingungslose humanitäre Feuerpause ein "strategisches Gebot". Ziel sei eine dauerhafte Waffenruhe.
Palästinenser brutal verprügelt
In Ostjerusalem wurden am späten Freitagabend zwei Palästinenser offenbar von jüdischen Extremisten brutal angegriffen. Ein 20-Jähriger lag am Sonntag nach Krankenhausangaben auf der Intensivstation, ein Gleichaltriger auf einer chirurgischen Station. Die Polizei ermittelte.
Neue Proteste in Europa
In Tel Aviv protestierten Tausende gegen den Gaza-Krieg. Linke Parteien und Menschenrechtsorganisationen hatten dazu aufgerufen. In Paris und London gingen ebenfalls Menschen auf die Straße. In der französischen Hauptstadt wurden nach Ausschreitungen etwa 40 Teilnehmer in Polizeigewahrsam genommen.
In der Wiener Innenstadt hat am Samstagnachmittag eine Kundgebung zum "Al-Quds-Tag" begonnen. Der Tag, an dem die Befreiung Jerusalems (arabisch: Al-Quds) von der "zionistischen Besatzung" beschworen wird, wurde vom iranischen Revolutionsvater Ayatollah Ruhollah Khomeini 1979 ausgerufen. Seitdem wird an diesem Tag weltweit demonstriert und die Vernichtung Israels propagiert.
Veranstalterinnen der Kundgebung, die vom Morzinplatz zum Stephansplatz zieht, sind verschiedene muslimischen Organisationen, unter anderem ist auch die iranische Imam-Ali-Moschee beteiligt.
Rund 400 Teilnehmer riefen Parolen wie "Israel raus aus Gaza", "Israel raus aus Palästina" oder "Solidarität mit Gaza". Die Veranstalter wiesen zu Beginn der Kundgebung darauf hin, dass es auch eine Gegendemonstration gebe, und riefen die Teilnehmer auf, sich "nicht provozieren zu lassen". Mit "Lasst Gaza leben, lasst Gaza frei"- und "Zionismus ist Rassismus, Zionismus ist Faschismus"-Sprechchören marschierte die Menge vom Schwedenplatz Richtung Rotenturmstraße.
Schreiduelle zwischen Demonstranten
An der Gegendemonstration nahmen laut Polizeiangaben etwa 150 Menschen teil. Sie wurde vom "Bündnis gegen den Al-Quds-Tag in Wien" organisiert. Hierzu gehören unter anderem die Israelitische Kultusgemeinde, das iran-kritische Bündnis "Stop the Bomb" und andere Organisationen. Am Begegnungsort beider Demonstrationszüge am Lugeck kam es zu heftigen Schreiduellen zwischen den beiden Teilnehmergruppen. Zwischenfälle und Auseinandersetzungen konnten von der Polizei verhindert werden.
Bereits am vergangenen Wochenende kam es zu anti-israelischen Demonstrationen in Wien (siehe Bericht unten).
An den Al-Quds Aufmärschen, die in diesem Jahr wieder in mehreren europäischen Hauptstädten stattfinden, würden auch Anhänger der libanesischen Hisbollah teilnehmen, "einer maßgeblichen Stütze des iranischen Regimes, die immer wieder in Terroranschläge weltweit verwickelt war", wie "Stop the Bomb" kritisiert. Auch viele Türken werden zu den Kundgebungen erwartet.
Gehen Sie ruhig vor", sagt die Palästinenserin mit dem vollen Einkaufswagen mit einer einladenden Armbewegung. "Danke, sehr nett", lächelt der junge Soldat mit nur zwei Semmeln in der Hand und dem Gewehr lässig über der Schulter. Vor den Kassen des Supermarktes "Rami Levy" in Gusch Etzion, mitten im besetzten Westjordanland, treffen sich Israelis und Palästinenser. Als Kunden. Mit ein und demselben Ziel: Möglichst preiswert und bequem einzukaufen. Schulter an Schulter. Jede Distanz scheint aufgehoben.
Parallele Welten, eng beieinander, aber ohne Brücken. Im "Gusch" leben 20.000 israelische Siedler unter 40.000 Palästinensern. Ruhig ist es hier an diesem Tag, an dem sich unten in der Küstenebene wieder Millionen Israelis vor den Raketen aus dem Gazastreifen in Bunker flüchten, Israels Kampfflugzeuge und Panzer rund um Gaza Raketenstellungen und Einrichtungen der feindlichen Hamas bombardieren.
Friedlich nebeneinander stehen auf dem Parkplatz auch die Autos. Wenn auch klar zu unterscheiden: Gelbe Nummernschilder die Israelis, weiße die Palästinenser. "Schmor merchak" fordert ein hebräischer Aufkleber auf dem VW Bora, in den die Palästinenserin ihre Waren lädt: "Abstand halten!" Auf dem Geländefahrzeug, in das der Soldat steigt, steht die Losung seiner Aufklärungseinheit: "Auf leisen Sohlen, mit Riesenschritten."
"Das ist mein Zuhause"
Direkt gegenüber liegt ein altes Steinhaus hinter Büschen versteckt. Omar und Nada mit ihren sechs Kindern sind hier zu Hause. Der 45-Jährige ernährt seine Familie mit Gelegenheitsjobs im nahen Bethlehem. Nach der Entführung wurde auch sein Haus durchsucht: "Das ging aber schnell, es hat ja nur drei Zimmer." Nada würde die Gäste gern auf einen Kaffee oder Tee einladen. "Leider geht es nicht, weil wir ja fasten."
Ende des Ramadan. In diesem Jahr, an einem Tag, fügte es der Mondkalender, dass gleichzeitig auch die Juden fasteten. Am 9. des Monats Av, an dem zwei Mal ihr Tempel zerstört wurde: 586 vor und 70 nach Christus.
"Es bietet sich doch geradezu an, das gleichzeitige Fasten mit einem gemeinsamen Mahl zu beenden", erklärt Eliaz Cohen, sein Wuschelkopf nickt. Seit 20 Jahren lebt der Sozialarbeiter, der in Israel als Lyriker bekannt ist, in Gusch Etzion. Vor fünf Jahren überraschte er mit der Gründung von "Jeruschalom", einer Friedensinitiative, die Siedler und Palästinenser zu Begegnungen einlädt. Vor allem jene, die an Gott glauben.
Idee findet Nachahmer
Eliaz Cohen weiß, dass es naiv klingt. Anders als die bekannten Friedensorganisationen bewegt er sich in kleinen Kreisen. Meist reichen Wohnzimmer aus, wenn Siedler und palästinensische Nachbarn sich treffen. "Es ist ein erstes Kennenlernen. Tief sitzende Scheu ist zu überwinden." Scheu auch vor denen, die die Begegnungen mit Misstrauen beobachten. Auf beiden Seiten. Die Zahl der Teilnehmer steigt langsam, aber stetig.
Myron Joschua, einer der Ersten, traf so zum ersten Mal seine Nachbarn aus Bet Ummar. "Jahrelang lebten wir aneinander vorbei. Sie hatten Angst vor mir, ich machte einen Bogen um ihr Dorf." Heute kann der Siedler sich einen Zwei-Staaten-Kompromiss vorstellen. "So oder so, wir bleiben Nachbarn."
Die Idee des gemeinsamen Fastenbrechens ging diesmal über Facebook raus. Das Echo überraschte. In New York gibt es in mehreren Synagogen und Moscheen gemeinsame Mahlzeiten. Menschen treffen sich in den USA, Australien, Frankreich ... "Sogar aus Kuwait haben wir Likes."
Im Gusch treffen sie sich auf freiem Feld. Gebetet wird getrennt. Auf einer Seite keine 100 Siedler, am Feldrand gegenüber eine Handvoll Palästinenser. Keine Massen, doch eine Ansammlung, die Vorüberfahrende anhalten lässt. Gebete, Lieder, Reden. Immer wieder Reden, auch von Suliman Hatib. Er ist im selben Alter wie Eliaz Cohen und mit denselben Wuschelhaaren. Er erzählt von zehn Jahren im israelischen Gefängnis. Jetzt hat er der Gewalt abgesagt. Er spricht vom "Dschihad für den Frieden."
Endlich geht es an die Reistafel mit Huhn. Sie ist so halal wie koscher. Nur so ist ein gemeinsames Mahl möglich. Und es geht. Anschließend trennen sich wieder die Wege. Wie nach dem Einkauf im Supermarkt. Ein Abend zwischen Feinden mit Gebet und gemeinsamen Mahl. Mitten im Krieg.
Die Journalistin Sulome Anderson ist libanesischer Abstammung und nennt ihren Freund "Habibi", ihr Freund Jeremy ist Jude und sagt "Neshama" zu ihr. Damit sind sie Teil zweier Kulturen, die sich fremd zu sein scheinen – und seit Jahrzehnten bekriegen.
Dass es so nicht sein muss, wollte das Paar aller Welt demonstrieren. Dafür schossen sie ein Foto und veröffentlichten es auf Twitter und Facebook. Es zeigt sie bei einem Kuss, vor ihrer Brust hält Sulome ein Papier mit der Aufschrift: "Juden und Araber lehnen es ab, Feinde zu sein" (siehe Bild).
Seit das Bild vor rund zwei Wochen online ging, haben zahlreiche Twitter-User es dem Paar nachgetan. Unter dem Hashtag #JewsAndArabsRefuseToBeEnemies zeigen sie, dass Krieg in Nahost nicht gleich eine persönliche Feindschaft bedeuten muss.
Kein Krieg in Israel ohne seine Debatte über die Moral. Über die Kampfmoral wie über die Lebensmoral, die es gleichzeitig zu wahren gilt. Für das eigene Leben, wie für das des Feindes.
Das zu vereinen, fällt diesmal schwerer, obwohl Israel schon schwerere Kriege geführt hat: "Wir kämpfen gegen eine faschistische Organisation", so Israels angesehenster Kolumnist Ari Shavit der Zeitung Haaretz, "sie machte das erste geräumte Palästinensergebiet zu einer Hochburg des Totalitarismus."
Gidon Levy, der auch in Haaretz schreibt, will sich von der unmoralischen Kriegsführung der Hamas nicht beeinflussen lassen: "Die Zahl der getöteten Kinder müsste jeden Israeli erschüttern", kritisiert er, "stattdessen wird sie bejubelt."
Der Vernichtungswille der Hamas, die den Tod aller Juden zu ihrem Programm machte, führt in Israel zu immer lauter werdenden Rufen "Tod den Arabern." Im Kampf gegen die rassistische Hamas äußert sich auch der Rassismus in Israel offen.
Auf der Linken bleibt der Widerstand gegen die Ultra-Rechten im Schatten der Kämpfe schwach. Sieht auch sie sich doch in einem existenziellen Kampf : "Es geht um jenes Wunder einer jüdischen Heimstätte, das in Gefahr bleibt", so Schavit.
Avirama Golan, ebenfalls linksliberale Autorin , erinnert daran, dass der Kampf um Frieden und Humanismus nicht die Liebe zum eigenen Volk ausschließe. Es gelte, vor der radikalen Rechte keine Angst zu haben. "Doch auch wenn Netanyahu nichts ausließ, jede Chance auf Frieden zu behindern, gelang es auch besseren und weiseren Politikern nicht, unsere Nachbarn von unserem Lebensrecht zu überzeugen."
Auch innerhalb der arabischen Bevölkerung Israels wächst dann die Verzweiflung. In Gaza sehen sie oft die eigene Familie gefährdet. Und gerade, wer sich um die Integration in die israelische Gesellschaft ein Leben lang bemühte, sieht sich plötzlich wieder draußen. Suher Bahalul, der als Sportreporter zur Legende wurde, äußerte seinen Frust deutlich: "Ich habe es satt, in diesem Staat Araber zu sein."
Man muss nicht im Nahen Osten leben, um zwischen den Fronten des Gaza-Konflikts zu stehen. Die in Wien lebende Filmemacherin Ruth Beckermann und der Wiener Autor Doron Rabinovici sind Gegner von Israels Besatzungspolitik. Doch wenn die Hamas die Grenze untertunnelt und in Israel täglich Sirenen heulen, habe Israel ihrer Meinung nach keine andere Wahl, als zu reagieren.
"Rein operativ, hat Israel eine hundertprozentige Legitimation zu einer Militäroperation‘‘, sagt Rabinovici, denn die Tunnel und der Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen seien eine Bedrohung für die israelische Zivilbevölkerung.
"Ich stelle mir vor, dass ich in meinem Garten sitze, plötzlich Terroristen aus einem Tunnel kommen und versuchen, mich und meine Familie zu töten‘‘ – ein für Beckermann erschreckendes Szenario .
Bevor es zu Frieden kommen könne, wäre ein radikales Umdenken auf beiden Seiten notwendig, meint Beckermann. Es sei problematisch, dass die Extremisten so stark seien. Rabinovici analysiert: "Während die eine Seite (Israel, Anm.) sich, nicht unbegründet, vor Vernichtung fürchtet, hat die andere Seite, nicht unbegründet, Angst vor dem, was sie Landraub nennen. Beide Seiten bemühen sich, die Angst der anderen zu vergrößern.‘‘
Höchst besorgt ist Beckermann über die jüngsten antisemitischen Ausschreitungen bei Anti-Israel-Demos in Europa. "Da ist es egal, ob das Türken, Tunesier, Palästinenser oder Deutsche sind – es ist unerträglich.‘‘ Rabinovici dazu: "Dem Antisemiten ist meine Meinung egal. Wenn er mich als Jude angreift, dann werde ich ihm auch als Jude entgegentreten. Dann werde ich ihm nicht erklären, dass ich gegen die Besatzungspolitik bin, sondern ihn als Antisemiten beschimpfen.‘‘