Politik/Ausland

Türkei will nicht alleine in Kobane eingreifen

Armee und Polizei in den Straßen, Barrikaden, ausgebrannte Autos, der Geruch von Tränengas – es sind dramatische Eindrücke, die der österreichische Theaterregisseur Karl Welunschek aus der Südost-Türkei schildert. Er war gerade in der Region unterwegs, als sich der seit Jahrzehnten schwelende Konflikt zwischen der kurdischen Bevölkerungsmehrheit in der Region und der türkischen Führung in den vergangenen Tagen dramatisch entlud. Es sehe aus, als habe der Bürgerkrieg wieder begonnen, sagt Welunschek auf seiner Odyssee durch Polizeiabsperrungen und Armee-Checkpoints.

Mindestens 24 Menschen starben dort seit Dienstag bei Zusammenstößen. Zum Teil waren kurdische Aktivisten mit den Sicherheitskräften aneinandergeraten, zum Teil soll es aber auch zu schweren Konfrontationen zwischen Islamisten und Kurden gekommen sein. Bereits vergangene Woche hatte die kurdische Arbeiterpartei PKK vor einem Ende des Friedensprozesses gewarnt. Erst vergangenen März hatte die PKK einen Waffenstillstand ausgerufen. Seitens der kurdischen Oppositionspartei HDP hieß es am Donnerstag jedenfalls, man sei weiterhin offen für Gespräche.

"Schauspiel"

Präsident Recep Tayyip Erdogan bewertete die Proteste als "Schauspiel". Und Premier Ahmet Davutoglu bekannte sich zum Friedensprozess: Man werde diesen keinem Vandalismus opfern.

In der Sache selbst aber, dem Anlass der Proteste, zeichnet sich keine Bewegung seitens Ankara ab. Konkret: In der Handhabe der Belagerung der kurdischen Grenzstadt Kobane in Syrien durch den IS. Nach wie vor halten türkische Truppen den Grenzübergang zu Kobane geschlossen. Und nach wie vor hält die Türkei an ihrer Position fest, nicht im Alleingang in Syrien aktiv werden zu wollen – während Ankara zugleich aber die Einrichtung einer Pufferzone fordert.

Konkret will die Türkei die Schaffung eines entmilitarisierten Gebiets in Syrien entlang der türkischen Grenze, durch das sowohl die Truppen des Islamischen Staates (IS) als auch bewaffnete kurdische Kämpfer auf Distanz gehalten werden sollen. Zudem könnte eine solche Zone als Auffangregion für syrische Flüchtlinge dienen. Unterstützung dafür kommt bisher nur seitens Frankreichs.

Mangelnde Strategie

Nach einem Treffen mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu, eine Bodenoperation der Türkei im Alleingang sei "kein realistischer Ansatz". Das internationale Bündnis gegen den IS müsse sich auf eine umfassende Strategie einigen. Und die müsse den Sturz des syrischen Machthabers Assad beinhalten. Mit Luftschlägen alleine könne man den IS nicht besiegen. Stoltenberg sagte dazu: Die Einrichtung einer Schutzzone sei in der NATO derzeit kein Thema.

Mehr oder weniger eindeutig machten indes die USA ihrem Unmut über die türkische Gangart Luft: Ein Sprecher des Pentagons erklärte klar, dass man den IS mit Luftangriffen alleine nicht besiegen werde können; aber es fehle dem Bündnis gegen den IS noch ein "gewillter, fähiger, effizienter Partner". Gemeint ist damit unmissverständlich das NATO-Land Türkei.

Zwar hat das Parlament in Ankara der Regierung die Entsendung von Truppen genehmigt, geschehen ist bisher aber nichts.

All das, während vor den Augen türkischer Truppen und syrischer Flüchtlinge in der Stadt Kobane gleich hinter der Grenze schwere Kämpfe stattfinden. Seit drei Wochen wird die Stadt belagert, seit mindestens zwei Wochen ist die Grenze dicht. Mittlerweile stehen die Verbände des IS in Vororten der Stadt. Rund ein Drittel Kobanes soll sich bereits in der Hand des IS befinden. Die Luftangriffe der internationalen Allianz haben den IS daran nicht gehindert.

Die Syrien-Krise wird innenpolitisches Thema. Mit einer symbolischen Blockade der türkischen Botschaft protestierten die Grünen gestern gegen die Außenpolitik der Bundesregierung. 13 Abgeordnete postierten sich vor der diplomatischen Vertretung. Von einem "unfassbaren Vorgehen der türkischen Regierung" sprach Peter Pilz dabei. Und davon, dass Österreichs Regierung den Druck auf die Türkei erhöhen müsse, die Grenze zur umkämpften Stadt Kobane zu öffnen, um die Versorgung der Verteidiger mit Hilfsgütern und Waffen zu ermöglichen. Im Außenpolitischen Ausschuss des Parlaments wollten die Grünen einen Appell zur Unterstützung der Kurden einbringen. Auf die entsprechende Frage des KURIER sagte Pilz, die Qualifizierung der PKK als Terrororganisation sei nicht zeitgemäß.

Außenminister Kurz drängte derweil die Türkei in einem Telefonat mit seinem Amtskollegen Cavusoglu dazu, den Kurden in Kobane zu helfen. Es müsse alles getan werden, was die Sicherheit und die humanitäre Situation vor Ort betrifft, so Kurz.

Demo in Wien

Der Krieg in Nordsyrien und die eskalierende Lage in der Türkei mobilisieren aber auch auf der Straße: Für den Freitag wurde eine Großdemo kurdischer Verbände in Wien angekündigt. Mit mehr als tausend Teilnehmern rechnen Veranstalter und Polizei. Der kurdische Demonstrationszug wird um 17 Uhr vom MuseumsQuartier (MQ) in den ersten Bezirk ziehen – die Polizei nimmt die Demo nach den massiven Ausschreitungen bei ähnlichen Protesten in Deutschland sehr ernst. "Wir sind auf alle Eventualitäten vorbereitet", versichert Polizeisprecher Patrick Maierhofer. Damit wird nicht nur auf Ausschreitungen zwischen Islamisten und Kurden in Deutschland angespielt, auch bezüglich der Demo in Wien gab es Drohungen.

"Wir werden auf jeden Fall friedlich bleiben, aber wir rechnen mit allem", sagt Ridvan Kesin von der Kurdischen Vereinigung Feykom, die die Demonstration organisiert. Im Internet wurde mehrmals angekündigt, dass sich radikale Gruppierungen den Demonstranten in den Weg stellen wollen.

Dennoch formt sich ob der Krise rund um Kobane eine Bewegung, die verschiedene Volksgruppen näher zusammenbringt. "Zur Demo morgen kommen Kurden, Türken und andere Gruppen, denn wir wollen alle dasselbe, nämlich Frieden", sagt Kesin.

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Jetzt hat der blutige Konflikt zwischen den Kurden in Nordsyrien und den Extremisten des "Islamischen Staates" (IS) endgültig auch europäische Städte erreicht. In Hamburg etwa gerieten kurdische Demonstranten und Salafisten (radikale Muslime) aneinander. In Celle konnte die Polizei Straßenschlachten zwischen jesidischen Kurden und muslimischen Tschetschenen verhindern. Auch in der Türkei kam es zu Zusammenstößen (siehe Grafik) – 19 Menschen starben.

"Waren diese radikalen Gruppen im Westen bisher eher zurückhaltend, fühlen sie sich jetzt durch die IS-Propaganda ermutigt, zu provozieren", sagt Ali Can, einer der maßgeblichen Kurden-Vertreter in Europa, zum KURIER. Der in der Schweiz lebende Journalist geht auch hart ins Gericht mit den politischen Verantwortlichen: "Die EU ist offenbar ein Freiraum für diese Elemente. Sie schwingen IS-Fahnen und bekennen sich zu den ,Gotteskriegern‘, die dort jeden Tag Menschen abschlachten. Und in Europa schaut man dem Treiben tatenlos zu. Ich verstehe nicht, warum man dagegen nicht konsequent vorgeht."

"Brauchen Waffen"

Die Lage in der umkämpften nordsyrischen Stadt Kobane bezeichnet Ali Can als „dramatisch, aber nicht hoffnungslos – wir werden nicht aufgeben“. Die Luftangriffe der Anti-Islamisten-Allianz auf Stellungen der IS hätten begrenzte Wirkung gezeigt, doch sie würden nicht ausreichen. Am Mittwoch konzentrierten sich die Gefechte auf den Ostteil der Stadt.

Wobei die kurdischen Volksschutzmilizen und die PKK-nahen Einheiten der syrisch-kurdischen Partei PYD den IS-Angreifern ausrüstungsmäßig klar unterlegen sind. „Wir wollen panzerbrechende Waffen“, appellierte daher der Ko-Vorsitzender der PYD, Salih Muslim, an die Staatengemeinschaft.

Kurz für Kurden-Hilfe

Doch diese zögert und belässt es im Wesentlichen bei Solidaritätsaufrufen. "Die Kurden, die an vorderster Front stehen, sind bei ihrem Kampf gegen die IS-Terroristen von der internationalen Gemeinschaft so gut wie möglich zu unterstützen", sagte Außenminister Sebastian Kurz und verwies auf die österreichische Hilfe im humanitären Bereich. "Ich verstehe die Bedenken nicht, Kriegsgerät zu liefern", so Kurden-Vertreter Can, "wenn der IS vertrieben ist, kann man die Waffen ja wieder einsammeln!"

Massive Vorwürfe erhebt er gegen Ankara: "Die Türkei blockiert alles. Um frische Einheiten nach Kobane zu bringen und generell für eine bessere Logistik, bräuchten wir die Korridore, die über türkisches Territorium führen. Doch das verweigert die Regierung in Ankara. Sie soll endlich den Weg freimachen, dass wir uns besser selbst verteidigen können."

Doch das liegt so gar nicht im Interesse des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, der heute in Ankara mit dem neuen NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zusammentreffen wird. Die drei selbstverwalteten kurdischen Zonen in Nordsyrien, wovon eine jetzt vor dem Fall steht, waren der Türkei immer schon ein Dorn im Auge. Die Furcht: Ein zweiter kurdischer De-facto-Staat vor der Haustüre (nach der kurdischen Autonomieregion im Nordirak) könnte den kurdischen Separatismus in der Türkei beflügeln.