Irischer Regierungschef warnt vor neuer Gewaltspirale in Nordirland
Angesichts der seit über einer Woche anhaltenden Ausschreitungen in Nordirland hat der irische Regierungschef Micheal Martin vor einer Rückkehr zu den bürgerkriegsähnlichen Zuständen aus der Zeit des Nordirland-Konflikts gewarnt. "Wir schulden es der Generation des Karfreitagsabkommens und auch künftigen Generationen, nicht an diesen dunklen Ort der Spirale aus Morden zwischen den Konfessionen und politischer Zwietracht zurückzukehren", sagte Martin am Samstag.
Am selben Tag wurde der 23. Jahrestag des Friedensabkommens von 1998 begangen. Es hatte den jahrzehntelangen Konflikt in der britischen Provinz weitgehend beendet, bei dem rund 3.500 Menschen getötet worden waren. In dem Konflikt standen einander protestantische Befürworter der Union mit Großbritannien und katholische Anhänger einer Vereinigung der beiden Teile Irlands gegenüber. Die jüngsten Krawalle lassen die Sorge um den zerbrechlichen Frieden in der Provinz wachsen.
Es sind die schlimmsten Unruhen seit Jahren. In Belfast liefern sich vorwiegend junge Randalierer regelmäßig nächtliche Straßenschlachten mit der Polizei. Die Krawalle gehen hauptsächlich von pro-britischen Unionisten aus, die über die Folgen des Brexit verärgert sind. Inzwischen greift die Gewalt aber auch auf das Lager der pro-irischen Nationalisten über.
Auch in der Nacht auf Samstag gab es trotz des Todes von Prinz Philip und Aufrufen zum Gewaltverzicht wieder Krawalle. Nach dem Tod des Ehemanns von Königin Elizabeth II. am Freitag hatten Unionisten geplante Demonstrationen in Belfast abgesagt und zudem dazu aufgerufen, die Proteste als "Zeichen des Respekts vor der Königin und ihrer Familie" bis zum Ende der Trauerzeit zu "verschieben".
14 Polizisten verletzt
Dennoch bewarfen Randalierer in einem Belfaster Viertel der protestantischen Unionisten Polizisten mit Molotowcocktails und Steinen. Dabei wurden laut den Behörden 14 Polizisten verletzt. Zusammenstöße wurden auch aus Coleraine im Norden der Provinz gemeldet. Am Samstag schien hingegen weitgehend Ruhe zu herrschen.
Einer der Auslöser der Ausschreitungen ist die wachsende Unzufriedenheit mit den Folgen des Austritts Großbritanniens aus der EU, der am 1. Jänner vollständig vollzogen wurde. Die britische Provinz ist weiterhin Teil des EU-Handelsraums, um Kontrollen an der Grenze zum EU-Mitglied Irland zu vermeiden. Der Sonderstatus soll eine harte Grenze zwischen Nordirland und Irland verhindern, um den Frieden seit dem Karfreitagsabkommen nicht zu gefährden.
Stattdessen müssen Waren nun jedoch zwischen Nordirland und dem restlichen Vereinigten Königreich kontrolliert werden. Pro-britische Politiker in Nordirland lehnen das sogenannte Nordirland-Protokoll ab, da es in Folge der Kontrollen bereits zu Engpässen geführt hat. In den Augen vieler Unionisten haben die Regelungen jedoch noch viel umfassendere Auswirkungen. Sie sehen darin die Errichtung einer Grenze innerhalb des Vereinigten Königreichs und damit einen Verrat durch die britische Regierung.
Im EU-Referendum von 2016 hatten rund 52 Prozent der Briten insgesamt für den Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union votiert. In Nordirland sprachen sich hingegen 56 Prozent gegen den Brexit aus.