Politik/Ausland

Irak: Flüchtlinge in der Todesfalle

In den schmalen Schattenstreifen größerer Felsblöcke drängen sich Frauen und Kinder dicht aneinander. Sie sind der einzige Schutz vor der sengenden Sonne im nordwestirakischen Sindjar-Gebirge, wo die Tagestemperaturen mehr als 40 Grad erreichen. Seit einer Woche harren mehr als 50.000 Flüchtlinge im kargen, 60 Kilometer langen Gebirgszug aus – die meisten von ihnen ohne Wasser, ohne Medikamente, ohne Nahrung, ohne Decken, Zelte, nur mit dem, was sie am Körper tragen.

Den Berg verlassen können die Flüchtlinge, die alle der muslimischen Minderheit der Jesiden angehören, nicht. Unten, auf allen Zufahrtsstraßen warten die islamistischen Kämpfer der IS („Islamischer Staat“). Die stellten die Geflohenen vor die Wahl: Zum Sunnitentum konvertieren oder sterben. Am Samstag drohten sie, Hunderte Yeziden-Familien (Jesiden) im Nordirak "hinzurichten".

Angesichts der katastrophalen Notlage der Jesiden im Sinjar-Gebirge hat die US-Luftwaffe seit Freitag Hilfsgüter aus der Luft abgeworfen. Doch viele der Wassertanks platzen beim Aufprall, nur ein Teil der Güter hat die Belagerten erreicht.

"Nur noch zwei Tage"


Dutzende Kinder sollen bereits verdurstet oder an Entkräftung gestorben sein. „Wir haben nur noch ein oder zwei Tage, um diesen Menschen zu helfen“, bat der nordirakische Lokalpolitiker Vian Dakhil am Samstag händeringend um Unterstützung, „dann werden sie beginnen, in Massen zu sterben.“

Mit den am Freitag begonnenen und am Samstag weitergeführten Luftschlägen gegen Stellungen und Konvois der Dschihadisten will die US-Luftwaffe den Belagerungsring um das Sinjar-Gebirge aufbrechen. Parallel dazu rücken Kämpfer der kurdischen Peschmerga-Milizen gegen die IS-Milizen vor. Doch so lange die Kämpfe toben, ist keine Rettung möglich. „Wir haben definitiv noch keine Wende erreicht“, berichtete auch der Zentralrat der Jesiden in Deutschland.

"Langzeit-Projekt"


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„Wenn zahllose Menschen von einem Massaker bedroht sind, und wenn wir die Möglichkeit haben, dies zu verhindern, können die USA nicht wegschauen“, begründete US-Präsident Barack Obama am Samstag den Einsatz der amerikanischen Luftwaffe – rund zwei Jahre, nachdem sich die USA aus dem Irak zurückgezogen haben. Er glaube allerdings nicht, sagte Obama, "dass wir dieses Problem innerhalb von Wochen lösen können. Es ist wird ein Langzeit-Projekt sein."

Wichtigstes Ziel der Luftangriffe gegen die IS-Kämpfer aber ist es, den zuletzt rasanten Vorstoß der Dschihadisten in Richtung der autonomen Kurden-Region und deren Hauptstadt Erbil zu stoppen. Bis auf 40 Kilometer waren die radikal-islamistischen IS-Kämpfer bereits an die 1,5 Millionen Einwohner zählende Stadt herangerückt. In Washington schätzte man die Lage schon als so bedrohlich ein, dass selbst der lange zögernde US-Präsident schließlich grünes Licht für die Luftangriffe gab.

Trotz des Eingreifens der US-Luftwaffe rechnet Obama aber nicht mit einer schnellen Beilegung des Konfliktes im Irak. "Ich glaube nicht, dass wir das Problem innerhalb weniger Wochen lösen können."

Treue Verbündete

Die Kurden des Irak sind nicht nur jahrzehntelange, treue Verbündete der USA. Die Stadt Erbil hat in den vergangenen Wochen auch mehr als 200.000 Flüchtlinge aufgenommen. Sie alle, Christen, Jesiden, Turkmenen und andere Minderheiten flohen vor den vorrückenden IS-Kämpfern und deren Gräueltaten. Insgesamt befinden sich in der Kurdenregion derzeit bereits mehr als 600.000 Flüchtlinge (auch aus Syrien).
Seit dem Vormarsch der Dschihadisten im Irak sind über 1,2 Millionen Menschen geflohen – einige von ihnen sogar ins benachbarte Bürgerkriegsland Syrien.

Großbritannien hat am Samstag sein erstes Transportflugzeug mit Hilfsgütern für die Bevölkerung im Nordirak auf die Reise geschickt. Die Maschine habe am Samstag den Luftwaffenstützpunkt Brize Norton nordwestlich von London mit Ziel Irak verlassen, berichtete die BBC. Die Hilfe sei unter anderem für Flüchtlinge der Volksgruppe der Yeziden (Jesiden) bestimmt, von denen Zehntausende in die Berge fliehen mussten und in sengender Hitze ohne ausreichend Wasser und Nahrung ausharren. Unter den Hilfsgütern seien Trinkwasser und Zelte, hieß es.

Der britische Premierminister David Cameron und der Verteidigungsminister Michael Fallon hatten am Freitag ein Hilfspaket im Volumen von acht Millionen Pfund (10,04 Mio. Euro) bekannt gegeben. Cameron schloss eine Beteiligung an den Luftangriffen der US-Amerikaner im Irak aus. Fallon erklärte jedoch, Großbritannien werde sich unterstützend beteiligen, etwa mit Tank-und Aufklärungsflugzeugen.

Ohne Wasser und Nahrung

Auch das US-Militär hat erneut Lebensmittel und Trinkwasser für die notleidenden Zivilisten im Nordirak abgeworfen. Drei Transportflugzeuge hätten Wassercontainer und zehntausende von Mahlzeiten im Sinjarf-Gebirge abgeworfen, teilte das Pentagon in der Nacht zu Samstag in Washington mit. Die Maschinen seien von zwei F18-Kampfjets begleitet worden.

Tausende Jesiden harren seit Tagen ohne Wasser und Nahrung in den Bergen nördlich der Stadt Sinjar aus, die von IS-Kämpfern erobert worden war. US-Außenminister John Kerry erklärte am Freitag in Kabul, die IS-Offensive gegen Jesiden und Christen zeigten "alle Anzeichen eines Genozids". Nach Angaben der kurdischen Nachrichtenseite Rudaw waren 50 000 Jesiden nach ihrer Flucht vor den Dschihadisten tagelang im Sindschar-Gebirge eingeschlossen. Mindestens 70 Menschen seien an Unterversorgung gestorben. Viele würden sich inzwischen von Blättern ernähren, berichten Augenzeugen. Einem Bericht des kurdischen Nachrichtenportals Basnews zufolge konnten kurdische Soldaten inzwischen eine große Zahl der Flüchtlinge in Sicherheit bringen.

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