Politik/Ausland

Indien: Von der Straße zurück ins Leben

Die jüngsten Ausreißer sind gerade sechs, sieben Jahre alt. Sie fliehen vor den Schlägen ihrer Lehrer, ihrer Väter; aus Angst, weil sie Geld für Süßigkeiten oder eine Kinokarte gestohlen haben; vor dem beißenden Hunger, der bitteren Armut in ihren Dörfern, vor Missbrauch. In der Hoffnung auf ein besseres Leben kommen jeden Monat 250 bis 270 Kinder, darunter 40 bis 50 Mädchen, am Bahnhof von Vijayawada an. Viele Mädchen reißen aus, weil sie von einem romantischen, luxuriösen Leben wie in den Bollywood-Filmen träumen.

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Stattdessen landen sie wie die Buben im Dreck der Millionenstadt. Allem und jedem auf der Straße ausgeliefert, hungrig, wieder als Opfer von Missbrauch und Schlägen. Betäubt durch Drogen. Wer Glück hat, wird noch davor aufgefangen: "Wir sind von sechs in der Früh bis neun am Abend am Bahnhof, um mit den Ausreißern zu reden und ihnen Hilfe anzubieten: Schutz, Essen, Kleidung, Medizin, ein Bett im ,Shelter‘, unserer Notschlafstelle", erzählt Bruder Salibindla Balashowry im KURIER-Gespräch in Wien. Der Salesianer-Pater leitet das Don-Bosco-Programm "Navajeevan" (Neues Leben), das mit seinen vielen Projekten vor allem Straßenkindern helfen will, und ist Projektpartner des Hilfswerks "Jugend Eine Welt".

"Freundlich und freiwillig", das sind die Schlüsselworte bei "Navajeevan", betont Programm-Manager und Trauma-Experte Venkatasawamy Raiarapu. Nach den Erfahrungen der Kinder sei es schwierig für sie, Vertrauen aufzubauen. "Wir arbeiten viel mit Kunsttherapie und Spielen", erzählt er. "Das Schwierigste überhaupt ist, Stabilität zu erreichen" – Grundvoraussetzung, um in die Schule gehen zu können oder einen Beruf zu erlernen. Der Erfolg lässt sich sehen: "In den vergangenen 25 Jahren konnten wir 60.000 Straßenkinder auffangen", sagt Bruder Salibindla. "Die meisten haben es geschafft, sich in die Gesellschaft wieder zu integrieren. Heute sind viele Ingenieure, Sozialarbeiter, Geschäftsleute, Freiberufler. 2000 haben es sogar auf die Universität geschafft und ihren Abschluss gemacht", erzählt Bruder Salibindla.

Dank an Österreich

Sein ausdrücklicher Dank gilt den Europäern: "Wir finanzieren unsere Projekte zu 90 Prozent mit Spenden aus Europa, vor allem aus Österreich, Deutschland und den Niederlanden", sagt Bruder Salibindla. Don Bosco betreibt das größte Netz für die Betreuung von Straßenkindern; sein sozialpädagogisches Programm umfasst an die hundert Notschlafstellen, 117 Kinderheime, 233 Straßen-Bildungszentren und 63 Ausbildungszentren."Unser Ziel ist, dass die Kinder erst gar nicht auf der Straße landen", sagt Raiarapu. Dafür haben die Salesianer ein "Netz für Kindersicherheit" initiiert, 150 Dörfer rund um Vijayawada gehören dazu: Es gibt ein Meldesystem für Gewalt gegen Kinder, sie werden nicht allein gelassen, wenn sie psychologische, ärztliche oder juristische Hilfe brauchen. In Andhra Pradesh, wo Vijayawada liegt, gibt es in 300 Dörfern "Kinderparlamente": Hier erzählen Kinder zwischen sechs und 18 Jahren von ihren Erfahrungen und fordern – unter Anleitung erwachsener Trainer – von der Dorfgemeinschaft Verbesserungen ein.

"Es ist ein Tropfen im Ozean, aber es konnten dennoch viele, viele Kinder gerettet werden. Wir hoffen sehr, dass der Friedensnobelpreis den Kindern helfen wird", sagt Bruder Salibindla. Er zählt wie der frisch gekürte erste indische Friedensnobelpreisträger, Kailash Satyarthi, zu Indiens Vorkämpfern für die Rechte der Kinder. Trotz des rasanten Wirtschaftswachstums in Indien sind noch immer 40 Prozent der Kinder unterernährt. Bruder Saliblinda. "Wir hoffen, dass der Nobelpreis dazu beiträgt, dass auch in Indien auf das Leben der Kinder geschaut wird."

Spenden erbeten an: Spendenkonto Jugend Eine Welt, Raiffeisen Landesbank Tirol IBAN: AT66 3600 0005 0002 4000, Stichwort "Navajeevan", BIC/SWIFT: RZTIAT22

Der 20-jährige Lukas Harrer ist erst vor Kurzem nach einem Jahr Zivilersatzdienst aus Vijayawada zurück nach Österreich gekommen. "Es war ein Jahr voller Erfahrungen – und ich würde es jederzeit wieder machen", erzählt der Oberösterreicher, der sich zuvor in seiner Heimat in der Jugendarbeit engagiert hat. Aber Indien und die Begegnungen mit den vom Leben hart gebeutelten Kindern haben ihm einen "neuen, weiteren Blickwinkel" eröffnet. "Ich wollte den Kindern etwas von meinem Wissen weitergeben", sagt der HTL-Absolvent. "Dabei habe ich sehr viel von ihnen gelernt." Beeindruckt habe ihn vor allem, mit wie wenig die Kinder schon glücklich waren.

Sechs Monate war Lukas im "Shelter", einem ersten Auffangprogramm für Zehn- bis 18-Jährige. Dort wird nachgefragt, warum sie auf der Straße gelandet sind. Wenn sie wollen, bekommen sie einen Platz zum Schlafen und neue Kleidung. "Aber alles ist freiwillig. Es wird niemand eingesperrt. Wer gehen will, kann jederzeit gehen", erzählt Lukas, der mit den Buben viel gespielt oder gebastelt hat – "dann haben sie etwas in der Hand, was sie geschafft haben".

Neun Helfer aus Europa

Wenn die Kinder bleiben wollen, kommen sie in andere Projekte, können in die Schule gehen, eine Ausbildung machen. "Das war echt schön, dass die Organisation den Kindern so viel anbieten kann. Sie ist für die Kinder wie eine Familie. Und auch wir Volontäre – im Schnitt waren wir immer neun aus Europa – haben uns als Teil der Familie gefühlt." Und dieser Zusammenhalt hat Bestand, das zeigt sich an den mittlerweile erwachsenen früheren Straßenkindern, "die den Schritt ins eigene Leben geschafft haben". Sie kommen immer wieder zu Besuch oder bieten selbst Kurse an – so wie ein Mittzwanziger, der bald heiratet und jetzt den Kindern Tanzstunden gibt.

Er selbst hat im zweiten halben Jahr seines Volontariats 17- bis 23-jährigen Jugendlichen Englisch beigebracht und Computerkurse gegeben. Doch am engsten verbunden fühlt er sich mit den zwölf- bis 15-jährigen Burschen, die er das ganze Jahr über am Abend im Internat betreut hat. Die 90 Burschen, darunter 20 Vollwaisen und viele Halbwaisen, gehen in eine staatliche Schule, Unterkunft und Verpflegung bekommen sie von den Salesianern Don Boscos – auch über die Spenden von Jugend Eine Welt.

Eines weiß Lukas nach dem Jahr in Indien mit Sicherheit: "Ich habe realisiert, dass wir in Österreich in einem Paradies leben. Worüber wir jammern, ist oft zum Lachen."

Informationen über Volontariate für Freiwillige und Zivilersatzdiener: www.volontariat.at