Immense Trauer um Frankreichs Ikone Simone Veil
Von Danny Leder
Es ist ein seltsamer Zufall der Geschichte, dass ausgerechnet wenige Wochen nach dem Triumph des pro-europäischen Erneuerer Emmanuel Macron, der als Hoffnungsschimmer in einer zuvor düsteren Situation empfunden wurde, eine Persönlichkeit in Paris gestorben ist, die ebenfalls unter widrigen Umständen den Glauben an die europäische Einigung und humanistische Werte hoch gehalten hat.
Das Verscheiden von Simone Veil im Alter von 89 Jahren am Freitag, das in Frankreich eine besonders starke Anteilnahme ausgelöst hat, wird insofern auch als eine Art Staffelstab-Übergabe zwischen entfernten aber ähnlich gepolten Generationen empfunden.
Die jüdische Auschwitz-Überlebende Veil gehörte schon in den unmittelbaren Nachkriegsjahren, zu den – damals wenigen – Stimmen in Paris, die sich für eine engste Verbindung zwischen Frankreich und Deutschland auf gleichberechtigter Grundlage einsetzten. Ihr geradezu prophetisches Engagement für den europäischen Einigungsprozess gipfelte 1979, als sie zur ersten Präsidentin des erstmals in allen Mitgliedsländern gewählten EU-Parlaments wurde.
Tobenden Männern Paroli geboten
Zuvor, 1975, hatte die bürgerliche Zentrumspolitikerin als Gesundheitsministerin eine Schlacht für Frankreichs Frauen quasi im Alleingang ausgefochten, die sie zur Zielscheibe unsäglicher Hasskampagnen gemacht hatte: das Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Sie musste sich vor einem tobenden und von Männern beherrschten Parlament behaupten und dabei einer Mehrheit aus dem eigenen bürgerlichen Lager Paroli bieten. Sie gewann dann doch die Abstimmung im Parlament mit Unterstützung des damaligen Premierministers (und späteren Staatschefs) Jacques Chirac und mit der Hilfe der Linksopposition.
Die Bevölkerung dankte es ihr. Jahrzehnte hindurch führte sie bei Umfragen über die „beliebtesten Persönlichkeit der Franzosen“. Dabei wurde wohl ihr gesamter Werdegang gewürdigt. Darunter ihr bewundernswert sachliches, aber stetes Bemühen über die Vernichtungsmaschinerie der Nazis Zeugnis abzulegen – ihre Eltern und ihr Bruder kamen um. Wobei sie auch darauf hinwies, wie schwierig und oft gar unmöglich es in den Nachkriegsjahren gewesen war, Interesse für das Schicksal der jüdischen Opfer der deutschen Nazi-Besatzer und des französischen Kollaborationsregimes zu wecken. Die französische Gesellschaft konzentrierte ihr Augenmerk damals auf den Opfergang der Widerstandskämpfer.
Im Zweifelsfall für Schwiegertöchter
Simone Veil war politisch eine Bürgerliche, die sich aber erfolgreich querlegte, als ihr einstiger Förderer, der liberale Staatschef Valery Giscard d’Estaing, Ende der 1970er Jahre, 100.000 algerische Arbeiter zwangsweise rückführen wollte. Sie war eine feministische Rebellin, auch privat: „Bei einem Streit zwischen meinen Söhnen und Schwiegertöchtern, ergreife ich immer die Partei meiner Schwiegertöchter aus gutem Grund“, pflegte sie zu sagen – ein Witz, der ernst gemeint war. Aber sie konnte trotzdem an gewissen traditionellen familiären Vorstellungen festhalten und ihre liberaleren Bewunderer schocken: so sah man sie an einer der Demonstrationen gegen die Homo-Ehe teilnehmen. Sie begründete dieses Engagement, indem sie erklärte, sie sei gegen das folgliche Recht gleichgeschlechtlicher Paare, Kinder zu adoptieren.
"Sie sagte wirklich, was sie dachte. Und dann trat sie beinhart dafür ein“, resümierte neidvoll ein weniger couragierter bürgerlicher Parteifreund. Denn dieses ungeschminkte Auftreten war auch Teil ihres Erfolgsgeheimnisses.