Endkampf um Zentrum von Mariupol beginnt: Russlands wichtigstes Ziel
Tag 44 nach dem russischen Angriff auf die Ukraine:
Es ist der entscheidende und blutige Häuserkampf in einer Ruinenstadt. Die von der russischen Artillerie fast völlig zusammengeschossene Hafenstadt Mariupol am Schwarzen Meer steht offensichtlich vor dem Fall. Die Militärexperten des US-Kriegsforschungsinstituts Institute for the Study of War (ISW) stellten in ihrer jüngsten Ukraine-Analyse fest, dass die russischen Streitkräfte „wahrscheinlich“ in den kommenden Tagen die Eroberung von Mariupol abschließen könnten. Das russische Staatsfernsehen hatte berichtet, das Zentrum der Großstadt am Asowschen Meer sei bereits eingenommen. In der Stadt seien aber noch 3.000 ukrainische Kämpfer.
Strategische Schlüsselposition
Mariupol ist für die russische Invasion von entscheidender Bedeutung. Die Hafenstadt ist der wichtigste Stein für die Landbrücke zwischen den bereits besetzten Gebieten im Osten und der Halbinsel Krim. Damit könnte Russland einen Erfolg seines Krieges vorweisen - und den braucht die Kreml-Führung nach den Rückschlägen vor Kiew und den hohen Verlusten dringend.
Kein Wasser, Strom
Die Bewohner der Stadt müssen seit Tagen ohne fließendes Wasser, Strom oder Heizung auskommen. Nach Angaben der von pro-russischen Kräften eingesetzten Stadtverwaltung von Mariupol sind bei den Kämpfen in der ukrainischen Hafenstadt bisher rund 5.000 Zivilisten getötet worden. Der Russland-freundliche „neue Bürgermeister“ Konstantin Iwaschtschenko sagte der staatlichen Nachrichtenagentur TASS dass in der Stadt zudem „60 bis 70 Prozent“ aller Wohnungen zerstört oder beschädigt seien.
Ukrainer einkesseln
Die neue Angriffswelle auf Mariupol ist Teil einer umfassenden Umgruppierung der russischen Armee in der Ukraine. Der Abzug der russischen Truppen aus dem Großraum Kiew dient nach Einschätzung von Oberst Markus Reisner dem Ziel, einen Großteil der ukrainischen Streitkräfte im Osten einzukesseln und zu vernichten.
Anstatt an vier Fronten anzugreifen, soll nun durch eine Schwergewichtsbildung im Donbass eine Entscheidung herbeigeführt werden. Die vor zehn Tagen begonnene Umstrukturierung der russischen Truppen werde wahrscheinlich dieses Wochenende abgeschlossen sein.
Die zu überwindende Distanz für die notwendigen russischen Truppenverschiebungen beträgt etwa 1.000 Kilometer. Das dürfte rund zehn Tage in Anspruch nehmen.
In dem von Russland nun ins Visier genommenen Raum zwischen dem Donbass und dem Fluss Dnjepr befanden sich zu Beginn des Krieges etwa 40 Prozent der ukrainischen Landstreitkräfte, das sind etwa 70.000 von insgesamt 170.000 Soldaten - die Verluste der letzten 40 Tage Krieg nicht eingerechnet, erklärt Reisner, Leiter der Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie, im Gespräch mit der APA.
Blitzkrieg gescheitert
Russland kündigte den Strategiewechsel bei einem Briefing des Verteidigungsministeriums am 25. März an. Medial fand die russische Lagedarstellung wenig Beachtung, aber tatsächlich markierte sie einen Wendepunkt, erläutert Reisner.
Der ursprünglich beabsichtigte "Blitzkrieg" inklusive Enthauptungsschlag sei gescheitert und der russische Generalstab habe nach knapp 30 Tagen sogenannter "Sicherheitsoperation" eingesehen, dass 200.000 Soldaten nicht reichen, um die gesteckten Ziele gleichzeitig erreichen zu können.
"Und die Ukrainer haben aus 2014 gelernt. Damals haben sie versucht, die Russen an der Grenze aufzuhalten und haben dabei verheerende Verluste erlitten, weil sie keine Chance gegen die übermächtige Artillerie und die schnell vorstoßenden russischen Panzerverbände hatten. Diesmal haben sie die Angreifer ins Land kommen lassen und ihre Nachschublinie in der Tiefe bekämpft. Sie haben den russischen Panzern praktisch den Versorgungshahn abgedreht."
9. Mai: Tag des geplanten Sieges
Im Jahr 2014 ist Russland am ukrainischen Nationalfeiertag, dem 24. August einmarschiert. Diesmal setzten die Russen offenbar wieder auf historische Symbolik. Reisner glaubt, dass der "Sieg im Donbass" für den 9. Mai angepeilt ist. An diesem Tag feiert Russland traditionell mit einer großen Parade den Tag des Sieges über Nazi-Deutschland. Präsident Wladimir Putin hat in einem Statement angedeutet, dass der Krieg im Mai vorbei sein könnte. Das würde bedeuten, dass die Russen ab jetzt genau einen Monat Zeit haben, um im Osten der Ukraine eine Entscheidung herbeizuführen.
Dazu versucht Russland nach Einschätzung des Experten, die ukrainischen Kräfte östlich des Dnjepr einzukesseln und zu vernichten. Die Zange bilden aus dem Norden kommend unter anderem die rund 50.000 Mann, die aus dem Raum Kiew abgezogen wurden und die Truppen, die sich im Süden nördlich von Mariupol formieren. Dieses Ziel Russlands lasse sich auch daran erkennen, dass die russischen Streitkräfte in den vergangenen Tagen massive Luftangriffe auf die Ukrainer in diesem Raum durchführten und die Versorgungslinien zu zerstören versuchten. Bei Charkiv und Cherson werden die russischen Fronten hingegen stabilisiert und abgesichert.
Die Ukrainer versuchen ihrerseits ihre Kräfte im Osten zu verstärken, "aber sie haben nur eingeschränkte Mittel". "Wenn der Osten trotz allem unhaltbar wird, müssen sie danach trachten, dass sie ihre Kräfte geordnet über den Fluss Dnepr zurückverlegen und dort eine neue starke Verteidigungslinie bilden. Die nächsten Wochen sind daher entscheidend."
Fehlende Offensivwaffen
Schwierig ist für die Ukrainer weiterhin die Tatsache, dass ihnen schwere Offensivwaffen fehlen, so Reisner. Selbst wenn der Westen jetzt Kampfpanzer schicken würde, der Transport etwa aus Großbritannien bis zur Ostfront in der Ukraine würde 14 Tage in Anspruch nehmen. Vor wenigen Tagen wurde den Ukrainern daher ein mit Panzern beladener Zug aus Tschechien angekündigt.
Ein Idealergebnis für Russland wäre es, das gesamte Küstengebiet von Odessa am Schwarzen Meer bis Mariupol am Asowschen Meer einzunehmen. Das sind die zwei wichtigsten Häfen der Ukraine. Rund 70 Prozent aller ukrainischen Exporte und Importe (darunter 98 Prozent des Getreideexports) laufen über den Seeweg. Für die Ukraine wäre der Verlust des Meereszuganges eine Katastrophe, weil sie dann zu einem Binnenstaat werden würde.
Vorerst haben es die Russen aber nicht geschafft, am Landweg bis Odessa zu kommen. Für den Angriff auf dem Landweg ist nämlich die militärische Einnahme der Stadt Mikolayiv, bzw. das Überschreiten des Flußes Bug, erforderlich. Das ist bisher nicht gelungen. Diese Stadt wird seit Wochen bombardiert, ist aber noch nicht gefallen.