Politik/Ausland

Türkei driftet Richtung Bürgerkrieg

Turkish ,Kristallnacht‘ coming soon?" (Kommt jetzt bald die türkische Kristallnacht?). Der Journalist Burak Bekdil zog am Mittwoch im englischsprachigen Online-Portal der Zeitung Hürriyet einen drastischen Vergleich. Er stellte die Ereignisse der Nacht davor samt den Übergriffen auf kurdische Einrichtungen in die Nähe des Nazi-Pogroms an den Juden vom November 1938.

Was war passiert? Die Redaktion von Hürriyet war in Istanbul innerhalb von nur zwei Tagen zum zweiten Mal von einem aufgebrachten Mob attackiert worden. Mehr als 100 Nationalisten versuchten das Gebäude zu stürmen – ihnen wie auch der Staatsspitze unter Präsident Tayyip Erdogan ist die regierungskritische Haltung des Medienhauses ein Dorn im Auge. Wobei es Indizien gibt, das diese Proteste gelenkt sein könnten: Beim ersten Angriff auf Hürriyet war einer der Rädelsführer ein Parlamentarier von Erdogans AK-Partei, der zugleich deren Jugendorganisation leitet.

Kurdenpartei im Visier

Weit dramatischer als diese Anschläge auf die Pressefreiheit war das Kesseltreiben fanatischer Nationalisten gegen Kurden und deren Einrichtungen. In der Hauptstadt Ankara wurde die Zentrale der Kurdenpartei HDP verwüstet, im Urlauberort Antalya gar in Brand gesetzt. Seit vergangenen Sonntag wurden 128 HDP-Büros attackiert. Auch kurdische Geschäfte gerieten ins Visier der Randalierer.

Auslöser dieser Eskalation waren die sich ausweitenden Kämpfe zwischen der türkischen Armee und der kurdischen Untergrundbewegung PKK. Seit Juli bombardiert die Luftwaffe mutmaßliche Stellungen der Rebellen in deren nordirakischem Rückzugsgebiet, die PKK antwortete mit Anschlägen in der Türkei, denen zuletzt mehr als 30 Soldaten und Polizisten zum Opfer fielen.

Die Kurden machen die Staatsspitze für die jüngsten Ausschreitungen verantwortlich. Erdogan und sein Premier Ahmet Davutoglu hätten "eine Entscheidung für den Bürgerkrieg gefällt", sagte HDP-Chef Selahattin Demirtas. Und weiter: "Die von einer Hand gelenkte Angriffsaktion wird von der Regierung ausgeführt." Die Polizei habe die Einrichtungen seiner Partei nicht ausreichend geschützt.

Tatsächlich setzt Erdogan auf eine Politik der Härte, um bei der neuerlichen Parlamentswahl (1. November) mit nationalistischem Rückenwind die Scharte vom 7. Juni auszuwetzen. Damals hatte seine AKP nach 13 Jahren die absolute Mandatsmehrheit verloren. Die Mutter der Niederlage waren ausgerechnet die Kurden. Die HDP, die als Liste erstmals landesweit kandidierte, erreichte rund 13 Prozent der Stimmen – damit war die Absolute der AKP perdu. Demirtas hatte die Liste geöffnet, deswegen votierten auch viele liberale und linke Bürger für die neue Kraft.

Wahltermin fraglich

Jetzt aber stellt die HDP den Wahltermin infrage. Man sei zwar nicht gegen den Urnengang, aber wegen der unruhigen Lage in den Kurdengebieten im Südosten der Türkei sei es wohl unmöglich, die Abstimmung durchzuführen, meinte Demirtas.

Die Zuspitzung der Lage in der Türkei hat nun auch den Europarat alarmiert. Der Generalsekretär des Gremiums, Thorbjörn Jagland, zeigte sich "tief besorgt". Er verurteilte die "tödlichen Attacken auf türkische Sicherheitskräfte (durch die Kurden-Guerilla PKK) mit Nachdruck. Zugleich aber mahnte er, dass "Angriffe auf politische Parteien und Medien die Demokratie zu destabilisieren drohen".

Der türkische Präsident Tayyip Erdogan hatte einen teuflischen Masterplan. Wider besseres Wissen, dass der Konflikt mit der Kurden-Guerilla PKK nicht zu gewinnen ist, erklärte er den Rebellen neuerlich den Krieg und ließ deren Stellungen im Nordirak bombardieren. Diese antworteten mit einer massiven Anschlagsserie auf Sicherheitskräfte in der Türkei. Das Kalkül des "Sultans": Auf einer Welle des Patriotismus, bei den Parlamentsneuwahlen am 1. November wieder die "Absolute" einzufahren.

Die militärische Konfrontation ist die eine Sache, doch nun hat diese die Gesellschaft erreicht. Nationalisten zünden kurdische Parteilokale an, kurdische Geschäfte werden verwüstet. Die Türkei driftet gefährlich Richtung Bürgerkrieg. Spätestens jetzt muss Erdogan die Notbremse ziehen und in der Kurden-Politik den Neustart wagen – Frieden im Land gibt es nur, wenn alle Bürger die gleichen Rechte haben. Das sollte dem Präsidenten auch sein Amtskollege im Weißen Haus klarmachen (auf die Europäer hört er längst nicht mehr).

Die tiefe Spaltung zwischen Nationalisten und Kurden, aber auch zwischen Religiösen und Säkularen muss überwunden werden. Jetzt. Gießt Erdogan dagegen aus purem Machtwahn weiter Öl ins Feuer, wird er in die Geschichtsbüchern eingehen als der Staatenlenker, der die Türkei in den Abgrund führte.