Politik/Ausland

Euroskeptiker verändern auch die Europa-Parteien

Der Ausgang der EU-Wahl vom Sonntag ist ein Schlüsselelement für die Weiterentwicklung der Europäischen Union, eine Art Zäsur. Noch nie zuvor lag in Frankreich, einem Gründerstaat der EU, eine rechtsextreme Partei, wie der Front National (FN) landesweit an der Spitze. Der FN will das europäische Projekt von innen heraus zerstören. In zahlreichen anderen Mitgliedstaaten legten links- und rechtsradikale, nationalistische und populistische Parteien zu. Das Spektrum der Parteien, die das europäische Projekt blockieren wollen, die gegen eine weitere Vertiefung der EU sind, neue Beitritte ablehnen, EU-Institutionen lächerlich machen, eine gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik verabscheuen und den freien Personenverkehr abschaffen wollen, umfasst nach Angaben des EU-Parlaments 130 bis 140 von insgesamt 751 Abgeordneten.

Zu dieser Gruppe gehören der FN von Marine Le Pen oder die UKIP (United Kingdom Independence Party), die den Austritt aus der EU, den Zerfall des Euro und die Rückkehr zum Nationalstaat fordern.

"Verlangen nach Wandel"

Der Wahlsonntag hat Folgen: Die Europäische Union geht geschwächt aus dieser Wahl hervor, der Machtkampf zwischen EU-Regierungen und EU-Institutionen wird sich verstärken, Mehrheiten im Parlament zu bilden, wird schwieriger und der Europaskeptizismus in Politik und Gesellschaft tiefer. Das Profil vieler Parteien und Regierungen dürfte "anti-europäischer" werden. Der britische Premier David Cameron macht es vor und interpretiert das Wahlresultat als "Verlangen der Menschen nach einem Wandel". Weg mit der EU, bestenfalls ein Europa à la carte kann sich der Konservative vorstellen.

Das Rezept der Euroskeptiker ist einfach: Man muss sich mit den Randparteien arrangieren, sonst wird man selbst Randpartei. Das ist eine Abwehrreaktion und nicht der Versuch, das europäische Projekt neu zu beleben und mehr zu wagen, zum Beispiel eine Sozialunion oder eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Verglichen mit der Situation vor zehn Jahren, als nach der Einführung des Euro und der Erweiterung Aufbruchstimmung herrschte, ist es um die Union heute schlecht bestellt.

Mit dem Eintreffen der nationalen Ergebnisse hat in Brüssel das große Rechnen begonnen: Zwar ist fix, dass die Europäische Volkspartei (EVP) wieder größte Fraktion sein wird – doch wie stark die einzelnen Gruppen genau sind, steht noch nicht fest.

Die offizielle Hochrechnung des EU-Parlaments führte am Montagnachmittag noch gut 60 Mandatare als "Sonstige" – sie vertreten im neuen Parlament Gruppen, die noch keiner Fraktion angehören und sich auch noch nicht eindeutig zuordnen lassen (die Neos sind auch neu, aber bereits den Liberalen zugerechnet).

Darunter fallen etwa die 17 Abgeordneten der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung, die erstmals Sitze in Brüssel erreicht hat. Die Partei von Beppe Grillo könnte sich der euroskeptischen Fraktion "Europa der Freiheit und der Demokratie", die von UKIP geführt wird, anschließen – oder auch zur Linken bzw. zu den Grünen gehen.

Die "Alternative für Deutschland" will mit ihrem sieben Neo-Mandataren die eurokritische Fraktion der "Europäischen Konservativen und Reformisten" verstärken, der die britischen Konservativen angehören.

Einige der "Sonstigen" dürften zu fraktionslosen Abgeordneten werden; das dürfte unter anderem die Einzel-Mandatare der deutschen NPD sowie der Satire-Partei "Die Partei" betreffen.

Auch unter den existierenden Fraktionen zeichnen sich Wechsel ab: Die rumänischen Liberalen, die fünf Mandate erreicht haben, wollen, so ihr scheidender Klubchef am Montag in Brüssel, von den Liberalen zur EVP wechseln.

Vilimsky sucht Partner

Ein großes Fragezeichen steht hinter der geplanten Rechtsfraktion, zu der sich u. a. die Freiheitlichen und der Front National von Marine Le Pen zusammenschließen wollen. 25 Abgeordnete aus sieben Ländern sind dafür nötig – und die zweite Hürde scheint schwierig.

Als fix dabei gelten neben FPÖ und FN die italienische Lega Nord (bislang mit UKIP in einer Fraktion), der belgische Vlaams Belang und die niederländische Partij voor de Vrijheid. Nachdem die slowakische Nationalpartei SNS den Einzug ins Parlament verpasste, fehlen der FPÖ noch zwei Bündnispartner.

Schweden zieren sich

Die rechtspopulistischen Schwedendemokraten, zu denen die FPÖ schon Kontakt aufgebaut hat, wollen sich noch nicht festlegen. Auch die Dänische Volkspartei (derzeit ebenfalls Partner von UKIP) steht einer Kooperation mit Le Pen & Co. eher skeptisch gegenüber.

FPÖ-Spitzenkandidat Harald Vilimsky will schon heute, Dienstag, in Brüssel Gespräche mit potenziellen Partnern führen. Kommt die Rechtsfraktion zustande, hätte sie mindestens 40 Abgeordnete und wäre damit in etwa gleich stark wie die zwei gemäßigten EU-skeptischen Fraktionen rund um UKIP und Tories bzw. die Linke.

Das ist zwar zu wenig, um Gesetze zu blockieren. Doch als Fraktion würden die Rechten nicht nur geschlossener auftreten können, sondern auch mehr Geld und parlamentarische Möglichkeiten erhalten, als sie es derzeit als Fraktionslose haben.

Persönliche Untergriffe sind eigentlich nicht der passende Umgangston für einen Premierminister, aber David Cameron war an diesem Morgen im BBC-Radio hörbar zu entnervt, um sich an solche Spielregeln zu halten. Dass sich dieser Nigel Farage ständig den Briten als "der einfache Typ von nebenan" verkaufe, werde er nicht länger hinnehmen: "Das ist ein Profi-Politiker, mit Riesenspesen, seiner eigenen Frau als Mitarbeiterin und allem was sonst noch so dazugehört."

Cameron hat allen Grund, unrund zu sein. Seine konservativen Tories haben bei den Europawahlen am Wochenende die befürchtet verheerende Niederlage eingefahren. Mit 24 Prozent der Stimmen kamen sie nur auf Platz drei, hinter der oppositionellen Labour-Partei, vor allem aber vier Prozentpunkte hinter dem klaren Wahlsieger: Nigel Farages UKIP.

Der rabiate EU-Gegner Farage war schon am Tag nach der Wahl nicht mehr nur mit Feiern ("Ich bin komplett aus dem Häuschen") beschäftigt, sondern mit ganz konkreten politischen Strategien für die nächste politische Auseinandersetzung: Die britischen Parlamentswahlen im Mai 2015, also in genau einem Jahr.

Farage macht bereits deutlich, wie er die Stellung seiner UKIP in der britischen Politik einschätzt: "Als dritte Kraft". Doch um diesen Anspruch tatsächlich umzusetzen, also mit Abgeordneten ins Londoner Unterhaus einzuziehen, muss man sich dem britischen Mehrheitswahlrecht stellen, das Kleinparteien stark benachteiligt.

Also will sich der UKIP-Chef auf die Regionen konzentrieren, in denen seine Partei am stärksten abgeschnitten hat, das sind etwa die Industrieregionen in Mittelengland. Dort werde man "politische Cluster" etablieren und so einzelne Bezirke zu gewinnen versuchen.

Kampf um die Arbeiter

Das wiederum sorgt für Unruhe bei Labour, sind doch diese Wahlbezirke traditionelle Hochburgen der Partei. Eine Gruppe einflussreicher Labour-Parlamentarier drängt darauf, endlich von der klar pro-europäischen Parteilinie abzurücken. Sie fordert, dass die eigene Partei für eine Volksabstimmung über den Austritt Großbritanniens aus der EU eintritt. Man müsse die Angst der Arbeiter vor unkontrollierter Zuwanderung endlich ernst nehmen. Sonst würden die in Scharen zu UKIP überlaufen.

Die Tories sind ohnehin seit Monaten dabei, von Europa abzurücken. Auch jetzt, nach der Wahlniederlage, forderte Premier Cameron erneut eine umfassende EU-Reform: Die Menschen seien vom EU-Projekt desillusioniert und wollten einen politischen Wandel.

Diesen Wandel will Cameron in Verhandlungen mit der EU durchsetzen. Großbritanniens Mitgliedschaft in der EU müsse grundsätzlich neu organisiert, Kompetenzen und Gelder aus Brüssel zurück nach London verlagert werden. Eine Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft hat der Premier bis spätestens 2017 versprochen. Vielen in der eigenen Partei ist das inzwischen längst zu spät. Sie wollen schon im kommenden Jahr über den EU-Austritt abstimmen – ganz so, wie es auch Nigel Farage fordert.

Seit dem Sieg des „Front National“ (Platz eins mit 25 Prozent) ist Frankreichs übrige Parteienlandschaft aus dem Häuschen: während SP-Staatschef Hollande in einer TV-Ansprache seine sozialliberale Reformpolitik bekräftige, wächst unter den sozialistischen Parlamentariern die Ablehnung dieses Kurses, den sie für die historische Niederlage der SP (14 Prozent) verantwortlich machen. Gleichzeitig muss die konservative UMP (Platz zwei mit 21 Prozent) um ihre Existenz bangen: der Machtkampf zwischen Führungs-Rivalen ist voll entbrannt.

Aber alle diese Umtriebigkeit wirkt abgehoben angesichts einer tieferen sozialkulturellen Entwicklung: das Frankreich der Reihenhaus-Siedlungen, abgeschlagenen Industriereviere und darbenden Kleinstädte, das sich geopfert fühlt zugunsten der urbanen Eliten und der Migranten, hat Marine Le Pen aufs Siegerpodest gehoben.

Tatsächlich verdeckt das französische Wahlergebnis in seiner Gesamtheit zwei gegensätzliche Aspekte: hätten die konservative UMP und die Zentrumspartei UDI (10 Prozent) die sonst übliche, gemeinsame Liste gebildet, wäre der FN wohl nicht auf Platz eins gelangt. Aber andererseits ging der FN in fünf der acht Großwahlkreise Frankreichs in Führung. Im dem mit Industrieruinen gesäumten Norden, wo Marine Le Pen kandidierte, kam sie sogar auf 32 Prozent. Sieht man von Frankreichs Überseeprovinzen ab, wo der FN fast inexistent ist, widerstanden ihr nur der spät-industrialisierte, vergleichsweise dynamischere Westen und die Region Paris.

Angst um bescheidenen Wohlstand

Der Trend wurde von französischen Sozialwissenschaftlern schon mehrfach geortet wurde: der FN wird zunehmend zur Partei, der sich endlos ausdehnenden Speckgürtel. Das ist tendenziell jene Mehrheit der Bevölkerung, die ihren bescheidenen Wohlstand bedroht sieht und um die Zukunft ihrer Kinder bangt, weil das Industriesterben anhält, weil inner- und außereuropäische Konkurrenz übermächtig erscheinen, weil Ortszentren verfallen, weil Steuern schmerzhaft anziehen, während die öffentlichen Dienste auf dem Rückzug sind.

Dazu kommen Misstrauen bis Angst gegenüber den noch ärmeren Mietern der Sozialbau-Siedlungen, oft arabisch- und afrikanisch-stämmige Arbeiterfamilien. Auch Neid wegen Sozialhilfen, Gerüchte über Gewalttaten der Jugendlichen dieser Siedlungen, tatsächliche Reibereien, Drogendeal und Einbruchskriminalität, manchmal allzu fordernde islamische Religiosität.

Schließlich haben Barackenlager von Roma-Migranten aus Osteuropa stellenweise zu Problemen mit der Nachbarschaft geführt. Zahlenmäßig handelt es sich um wenige Personen, aber das Phänomen hat in der Vorstellungswelt vieler Franzosen bedrohliche Dimensionen angenommen, die Marine Le Pen noch übertrieb, in dem sie bei ihren Wahlversammlungen suggerierte, dass sich in Osteuropa „sieben Millionen Roma“ startklar zum Sturm auf Frankreich bereit hielten und dabei von der EU unterstützt würden.

Muslime und Juden

Gleichzeitig haben diesmal auch überzeugte sozialistische Arbeiterwähler und solche aus Migrantenfamilien sowie Angehörige der urbanen Bildungsschichten der SP ihre Stimme versagt und sich enthalten. Während eine Minderheit auch der Muslime und Juden (In Frankreich leben die meisten Muslime und Juden Europas) für Marine Le Pen gestimmt haben – aus den selben Gründen wie die übrigen FN-Wähler (Wirtschaftsstagnation, Angst vor Jugendkriminalität), und weil die FN-Chefin einen moderateren Ton als ihr Vater, der FN-Gründer Jean-Marie Le Pen, anschlägt.

Bleibt ein Trostpflaster für die Le Pen-Gegner: Bei einer Umfrage unter den FN-Wählern vom Sonntag stimmten bloß 28 Prozent der Behauptung zu: „Die FN hat ein Programm, das die Lage in Frankreich verbessern würde“. Auf die Frage „Vertrauen sie den FN-Kandidaten mehr als anderen Politikern?“ antworteten gar nur acht Prozent mit Ja.