Ukraine: Sorge um totalen Kollaps des Waffenstillstands
Von Stefan Schocher
Nach den schweren Kämpfen vom Mittwoch wählte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko am Donnerstag scharfe Worte gegen Russland. Bei seiner Jahresbilanz-Rede im Parlament in Kiew sprach nahmen der Krieg im Osten des Landes und die massive Wirtschaftskrise den größten Raum ein. Poroschenko sprach von regulären russischen Truppen, die bei den Kämpfen im Großraum Donezk zum Einsatz gekommen seien. 14 russische Kampfgruppen mit zusammengenommen 9000 regulären russischen Soldaten seien derzeit in der Ostukraine aktiv. Und Poroschenko verteidigte die Rückverlegung schwerer Waffen an die Front. Man habe einen Angriff "angemessen erwidert".
Am Mittwoch hatten Verbände der pro-russischen Milizen im Osten einen massiven Angriff auf die von ukrainischen Einheiten gehaltenen Donezker Vororte Marinka und Krasnogoriwka gestartet. Mindestens 24 Menschen starben – vier Zivilisten, fünf ukrainische Soldaten, 15 pro-russische Milizionäre. Vertreter der selbst ausgerufenen Donezker Volksrepublik (DNR) und Kiew schoben einander die Schuld für die Eskalation zu. Seitens der DNR hieß es, man habe auf ukrainischen Beschuss reagiert und der Vorstoß auf Marinka sei erfolgt, nachdem ukrainische Einheiten abgezogen seien. Moskau sprach von einer gezielten Provokation im Vorfeld des G7-Gipfels. Kiew wiederum sprach schlicht von einem Angriff.
Aufmarsch vor der Eskalation
DNR-Vertreter hatten erst vor Tagen erneut das Ziel formuliert, auch die von ukrainischen Kräften gehaltenen Gebiete der umkämpften Regionen Donezk und Lugansk einnehmen zu wollen. Und die Version Kiews wird auch durch Beobachtungen der OSZE-Mission in der Ostukraine gestützt. Demnach begann in den frühen Morgenstunden Artilleriebeschuss seitens der DNR-Verbände. Zugleich wurden in Donezk starke Verbände mit Panzern und Artillerie gesichtet, die sich in Richtung Westen bewegt hätten.
Bestätigt wurde letztlich von beiden Seiten (DNR und Kiew), dass Marinka weiter unter ukrainischer Kontrolle sei. Am Donnerstag hieß es, im Hinterland seien Operationen gegen Sabotagegruppen im Gange. Eine solche Gruppe sprengte in Odessa am Donnerstag eine Zugstrecke. Aus Kharkiv hieß es, mehrere Personen seien festgenommen worden. als sie versuchten, Geleise zu sprengen.
Am Donnerstag war die Lage in Marinka selbst laut einem Sprecher des ukrainischen Militärs "angespannt aber stabil". Gefechte wurden aus dem Großraum Donezk und der Region um Mariupol gemeldet.
Die Eskalation am Mittwoch war die schwerste seit Abschluss des Minsker Abkommens vergangenen Februar und der darauffolgenden Einnahme der Stadt Debaltsewe durch Russland-treue Verbände. Zwar hatte der Waffenstillstand danach nie wirklich gehalten – großflächige Vorstöße oder offene Operationen gab es aber nicht.
Entsprechend groß ist die Sorge vor einem endgültigen Zusammenbruch des Abkommens, das auch politische Schritte beinhaltet. Maja Kocijancic, Sprecherin der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini, sagte: Die neuen Kämpfe riskierten "eine neue Gewaltspirale auszulösen". Sie verlangte eine Umsetzung des Minsk-Abkommens, das "die beste Chance auf die Lösung des Konflikts" sei. Ein Sprecher der deutschen Regierung (Das Minsk-Abkommen entstand auf Initiative von Kanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident Hollande) nannte die Eskalation einen "schweren Verstoß" gegen das Abkommen und "besorgniserregend".
In seiner Jahres-Rede gab sich Poroschenko schließlich selbstkritisch: Er sei weder mit der Arbeit der Regierung, noch des Parlaments zufrieden. Auch seiner eigenen nicht. Ein Hinweis auf einen Bruch der Regierung? Zuletzt hatten sich Berichte gemehrt, zwischen Poroschenko und Premier Jazenjuk krisle es.
Grundrechte für eine ethnische Minderheit in einem verlässlichen und gut funktionierenden rechtsstaatlichen System: So präsentierte Österreichs Justizminister Wolfgang Brandstetter vor wenigen Tagen das Modell Südtirol vor einem internationalem Rechtsforum in St. Petersburg. Was Österreich und Italien in Jahrzehnten entwickelt hätten, sei quasi „best practice“ für den Umgang mit Minderheitenrechten. Ohne die umstrittenen Regionen in der Ostukraine und die Krim beim Namen zu nennen, sprach Brandstetter unter anderem vor Russlands Premierminister Dimitri Medwedew über Lösungsansätze für aktuelle „innereuropäische Konflikte“.
Das Modell Südtirol, mit seinen fest verankerten Rechten für die deutschsprachige Bevölkerung, die von ihrer Sprache bei allen Behörden problemlos Gebrauch machen könne, könne sich auch in anderen Regionen Europas bewähren. Brandstetter betonte dabei ausdrücklich, die „Schutzmachtfunktion“ Österreichs. Irgendwann könne man den Punkt erreichen, „an dem nationale oder geografische Grenzen an Bedeutung verlieren“.