Der Pakt mit Ankara soll Flüchtlinge abschrecken
Ein Frühstück mit Tee, Kaffee und Croissants soll am Freitagvormittag den Durchbruch für ein Flüchtlingsabkommen mit der Türkei bringen. Doch früher als ursprünglich geplant kam der türkische Premier Ahmet Davutoğlu bereits in der Nacht zum Freitag in Brüssel an. Er befürchtet, der Streit unter den 28 Staats- und Regierungschefs könnte den Türkei-Deal zum Platzen bringen.
"Die Türkei wird niemals ein Flüchtlingsgefängnis unter offenem Himmel sein", warnte er die EU. An dem türkischen Vorschlag zur Lösung der Flüchtlingskrise dürfe nichts geändert werden. Damit ist klar: Die Türkei ist nicht bereit, Änderungen an dem Abkommen, der im Prinzip beim EU-Türkei-Gipfel am 7. März vereinbart wurde, hinzunehmen. Bis zum entscheidenden Frühstück, das zu einem Lunch werden könnte, rangen die EU-Granden um eine internen Kompromiss.
Zu unterschiedlich waren die Interessen und auch Vorbehalte gegen eine zu enge Kooperation mit der Türkei. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, die beiden Präsidenten Jean-Claude Juncker (Kommission) sowie Martin Schulz (Europäisches Parlament) zeigten sich "vorsichtig optimistisch". Daneben gab es die Gruppe der Skeptiker, zu der auch Österreichs Kanzler Werner Faymann zählt. Er warnte vor "einem Abtausch mit der Türkei".
Die EU dürfe Prinzipien und Werte nicht über Bord werfen. Schlicht "unnötig" fand Ungarns Premier Viktor Orbán den Türkei-Pakt. Da die Balkanroute nun dicht sei, "braucht die EU kein Abkommen mehr", sagte Orbán. Und Zypern drohte gar mit einer Blockade.
"Sehr kompliziert"
Die chaotische Lage brachte die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite schon zu Gipfelbeginn auf den Punkt: "Ich verstehe einen Teil der Kritik, ich denke, dass das vorgeschlagene Paket sehr kompliziert ist, die Umsetzung wird schwierig, und es ist am Rande internationalen Rechts."Dem widersprach Juncker: Die Vorschläge der Kommission seien rechtskonform, das sagte auch der Generalsekretär des Europarates. Was sind nun die zentralen Punkte des Abkommens? Es geht um die Rückführung der illegal in Griechenland eingereisten Flüchtlinge aus der Türkei. Die Migranten sollen in Hotspots registriert werden, das soll zwei, drei Tage dauern. Dafür stellt Griechenland Richter ab, die EU schickt zusätzliche Beamte.
Die Rückführungen finanziert die EU-Kommission. 20 Millionen Euro sind dafür vorgesehen. Bundeskanzler Faymann plädierte für rechtlich wasserdichte Verfahren, denn: "In der EU darf es keine Gefängnisinseln geben." Für jeden aus Griechenland zurückgeschickten Syrer nimmt die EU einen anderen Syrer aus der Türkei auf (1:1-Regel). Dieses Modell ist eine zeitlich begrenzte Notmaßnahme. Im Entwurf des EU-Türkei-Abkommens, der dem KURIER vorliegt, ist die Rede von 72.000 Syrern, die nach einem im Vorjahr beschlossenen Schlüssel in der EU freiwillig aufgenommen werden könnten.
Eine Gruppe der Willigen (Deutschland, Niederlande, Portugal) wäre dazu bereit. Dass bisher die Umverteilung nicht funktioniert hat, spielt keine Rolle. Da das 1:1-Modell Flüchtlinge und Schlepper abhalten soll, den Weg nach Griechenland zu nehmen, dürfte der Flüchtlingsstrom bald versiegen, nehmen die Optimisten an. Das ganze System soll Flüchtlinge abschrecken.
Türkei für Visa-Freiheit
Für die Türkei ist weniger das EU-Geld – sechs Milliarden Euro 2018 – als vielmehr die Visa-Liberalisierung ab Juli das wichtigste Ziel. Viele Staaten, auch Österreich, lehnen eine rasche Visafreiheit ab. Andere Sorgen hat der griechische Premier Alexis Tsipras. Hart kritisierte er die einseitigen nationalen Maßnahmen der Grenzschließungen entlang der Balkanroute, die zu einer Flüchtlingskatastrophe an der griechisch-mazedonischen Grenze führe. Das Drama hat einen Namen: "Idomeni", sagte Tsipras. "Das ist eine Schande für eine gemeinsame Kultur, wir müssen Entscheidungen treffen, um die Lage zu deeskalieren."
Der griechisch-zypriotische Präsident Nikos Anastasiades stemmt sich gegen die Aufnahme rascher Beitrittsgespräche zwischen der Türkei und der EU. Damit hält er die Veto-Keule gegen das gesamte Türkei-EU-Abkommen in der Hand. Um diese Waffe nicht einzusetzen, verhandeln EU-Spitzen seit Tagen mit Anastasiades, um ihn umzustimmen.
Die Angst des Präsidenten ist nämlich, dass die EU sämtliche Wünsche der Türkei erfüllt, inklusive rascher Beitrittsverhandlungen, und die Türkei Zypern völkerrechtlich weiterhin nicht als Staat anerkennt.
Zypern ist seit der türkischen Invasion im Jahr 1974 geteilt. Nordzypern ist türkisch besetzt und international nicht als eigener Staat anerkannt (siehe Karte).
Diplomatisches Ringen
EU-Ratspräsident Donald Tusk betonte in seinem Einladungsbrief an alle 28 Staats- und Regierungschefs zum EU-Gipfel, die Spannungen zwischen Zypern und der Türkei zu beseitigen, um ein EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen schließen zu können. Anastasiades seinerseits antwortete, dass "Zypern der Öffnung neuer Beitrittskapitel nicht zustimmen werde, solange die Türkei ihre Verpflichtungen nicht erfüllt".
Um Zypern von der Blockade des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens abzuhalten, soll der Regierung in Nikosia für die derzeit laufenden Verhandlungen zur Wiedervereinigung der Insel sämtliche Unterstützung zugesagt werden. Anastasiades fürchtet, dass zu frühe Fortschritte in den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei die Bemühungen um eine Wiedervereinigung vereiteln könnten. Noch 2016 ist ein entsprechendes Referendum geplant.
2004, vor dem EU-Beitritt des griechisch-zypriotischen Teiles der Insel, scheiterte ein Referendum an einem Nein der griechischen Zyprioten. Nordzypern stimmte damals für die Wiedervereinigung.