Politik/Ausland

Erster Praxistest beim Abendessen

Nach seinem späten Abendessen mit den anderen EU-Staats- und Regierungschefs hatte Kanzler Christian Kern gestern eine Menge thematisch schwerer Gesprächsbrocken zu verdauen: Vom Brexit bis zur komplizierten Regierungsbildung in Deutschland drehten sich die Debatten, von den euphorischen Europa-Visionen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron bis wohl auch hin zur einen oder anderen Frage nach dem Stand der Vorwahl-Dinge in Österreich.

In der estnischen Regierung wuchs zuletzt die Sorge, ihr informeller EU-Gipfel – ein Treffen ohne offizielle Beschlüsse – könnte "gekapert" werden. Die "digitale Zukunft der EU" ist das eigentliche Thema des bis heute Abend dauernden EU-Gipfels. Das digital-affine, derzeitige Ratsvorsitzland Estland lebt der restlichen EU schon jetzt vor, was digitale Vernetzung auf allen Ebenen der Verwaltung und des Alltags bedeuten kann.

Doch nicht zuletzt Emmanuel Macon durchkreuzte die Pläne der estnischen Gastgeber. Zumindest pochten französische Diplomaten im Vorfeld des Gipfels vehement darauf: Macron müsse beim abendlichen Dinner ausreichend Gelegenheit erhalten, seine Reformpläne für die EU noch einmal auszubreiten. Erst vor zwei Tagen hat der junge französische Staatschef ein leidenschaftliches Europa-Plädoyer abgeliefert – mit umfassenden Vorschlägen, wie die EU innerhalb der nächsten zehn Jahre stärker zusammengeschmiedet werden kann.

Macrons Menü

Dass Macrons Menü nicht so heiß gegessen wie serviert wird, davon gehen auch seine 26 mit am Tisch sitzenden Staats- und Regierungschefs aus. (Gefehlt hat Spaniens Premier Rajoy. Er hatte wegen des Referendums in Katalonien abgesagt). Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel zeigt sich zwar angetan vom Europa-Elan des französischen Präsidenten. Konkrete Stellungnahmen zu dessen Plänen für eine EU-Interventionstruppe, eine EU-Asylbehörde oder ein eigenes Budget der Eurozone samt Euro-Finanzminister sind von Merkel nicht zu erwarten, solange keine neue deutsche Regierung steht.

Skepsis aber schlägt Macron schon jetzt aus einer Reihe reicherer EU-Staaten (siehe Artikel unten) bei allem entgegen, was sich nach "Transferleistungen" anhört. Vergemeinschaftung von Schulden oder mehr Umverteilung? Ein No-Go, besonders im nördlichen Europa. Und so durfte in Tallinn erwartet werden, dass Macrons Europa-Visionen einen durchaus ruppigen ersten Praxis-Test zu bestehen hatten.