Frankreich-Wahl: Wer macht das Rennen?
Von Danny Leder
Im Gebäude der "Ecole élémentaire" (Volksschule) auf der Avenue Gambetta im 20. Pariser Bezirk haben sich, nach Schulschluss, die örtlichen Wahlwerber von Emmanuel Macron noch einmal versammelt. Die Schlacht ist zwar schon gelaufen, und kaum jemand mag noch am bevorstehenden Sieg von Macron zweifeln. Vor allem seit sich seine Rivalin, Marine Le Pen, im abschließenden TV-Duell durch hilflose Aggressivität fürchterlich blamiert hat.
Zornige Linke
Aber die "Marschierer" (so benannt nach der von Macron begründeten Bewegung: "En Marche", sinngemäß: Auf dem Weg) haben bis zuletzt – sicher ist sicher – den sozial und kulturell sehr gemischten Bezirk abgeklappert. Hier ist im ersten Wahlgang nicht der liberale Macron, sondern der Linkstribun Jean-Luc Melenchon mit 32 Prozent in Führung gegangen. Melenchon hat für die heutige Stichwahl keine klare Empfehlung abgegeben. Fast die Hälfte seiner Wähler, so ergaben Umfragen, will sich enthalten. Das gilt vor allem für junge, zornige Linke.
"Wir haben solche Leute oft getroffen und versucht ihnen zu erklären, dass Macron für neue Sozialmaßnahmen steht, die aber eben den neuen, weniger stabilen Berufslaufbahnen entsprechen, und die finanzierbar sein müssen," berichtet Michèle, eine 56-jährige Lehrerin: "Viele haben uns gut empfangen, aber für einige bleibt Macron ein wirtschaftsliberaler Kahlschläger und Banker (Macron war eine Zeit lang Investmentbanker)."
Michèle engagierte sich für Macron, weil sie "angesichts des Aufstiegs der Extremisten Le Pen und Melenchon" befand, man müsse "etwas tun, um Frankreich zu beruhigen". In der eigenen Familie blieb sie mit ihrem Eintreten für die EU, das vermutlich wichtigste Erkennungszeichen der Macron-Bewegung, aber vorsichtig. Ein Cousin, der als selbstständiger Maurer arbeitet, wäre wegen der Konkurrenz von billigeren Handwerkern aus Osteuropa fast in den Konkurs geschlittert. Er konnte sich nur durch die Entlassung seiner Mitarbeiter und den Rückgriff auf andere Einmann-Unternehmer retten. "Ich habe ihn nicht gefragt, wen er wählt. Der Familienfrieden ist mir wichtiger".
Fans im Sozialbau
Regelrecht begeistert von der Kampagne ist Aurelien Minet. Der 30-jährige Macron-Anhänger, von Beruf Buchhalter, ist bei seiner Wahlkampftour von Jugendlichen in den Vorhöfen der Sozialbauten eines ziemlich verrufenen Viertels unerwartet herzlich empfangen worden: "Wir dachten, die verachten Politik. Aber die Burschen, die da herumstanden, waren politisch auf dem letzten Stand, wissbegierig und sehr dankbar, dass wir kommen. Das war super-genial".
Viele dieser jungen Leute aus Migrantenfamilien hatten im ersten Wahlgang den Linken Melenchon gewählt. Der liberale und wirtschaftsfreundliche Ansatz von Macron schreckt sie aber nicht ab: "Sie haben oft vor, Unternehmer zu werden, etwa eine Imbiss-Stube zu gründen, um der chronischen Unterbeschäftigung zu entgehen. Viele arbeiten extrem hart für sehr wenig Verdienst, etwa als Chauffeure für Firmen wie Uber (der Billigfahrten-Betreiber, der durch die Benützung von Schein-Selbstständigen die klassischen Taxis unterbietet). Diese jungen Menschen interessiert der Vorschlag von Macron, die Umschulungen und Arbeitslosenstützen, und sei es nur für Überbrückungsphasen, auf Selbstständige auszudehnen."
Der grüne Stadtrat für Transportwesen, Renaud Martin, hat sich Macron angeschlossen, weil er dessen Engagement für die EU und ihre "Erneuerung" für das nunmehr wichtigste Unterscheidungsmerkmal der politischen Kräfte Frankreichs hält: "Macron ermöglicht den politischen Big Bang, durch das Bündnis des linken und bürgerlichen Zentrums, jenseits der bisherigen, sinnlosen Frontverläufe."
Auf der anderen Seite, beim "Front National", schien zuletzt nicht einmal mehr Kandidatin Marine Le Pen an die Möglichkeit ihres Sieges zu glauben. Bei ihrer letzten Versammlung in einem Dorf in Nordfrankreich, ihrer eigentlichen Bastion, bekannte sie sich zwar zu ihrem heftigen Auftritt im TV-Duell: Sie habe das "Liebkind der Eliten gebeutelt", erklärte sie stolz und zog nochmals ihre Anhänger in ihren Bann: "Ich bin die Witwe des Bauern, der Selbstmord begangen hat, weil er es nicht mehr schaffte. Des Unternehmers, der die nicht-loyale Konkurrenz ausländischer Firmen erleidet, die dreimal weniger Sozialabgaben zahlen. Ich bin die Sprecherin der Bewohner der Wohnviertel, die von der Kriminalität verunstaltet werden."
Schlicht versagt
Aber sie sagte auch, so als hätte sie bereits die Stichwahl verloren, über ihre Gegner: "Sie werden gewählt, sie machen Versprechen, die sie nicht halten, und werden wieder gewählt". Und unter den Anwesenden gestanden viele, was bereits zuvor zahllose, enttäuschte Le Pen-Anhänger auf ihren Plattformen im Internet formuliert hatten: ihre Hoffnungsträgerin hatte im entscheidenden Fernseh-Duell mit Macron schlicht versagt.
"Mich zu verstecken hätte keinen Sinn. Auf der Bühne zu sein auch nicht. Ich muss da sein, wo ich hingehöre: An seiner Seite. Niemals weit weg", sagt Brigitte Macron, geborene Trogneux, geschiedene Auzière. Die 64-jährige ehemalige Französisch- und Lateinlehrerin findet, dass ihr Mann Emmanuel Macron nicht viel Zeit zu verlieren hat. "Er muss das 2017 machen, denn 2022 wird ihm mein Gesicht Probleme bereiten", begründete sie selbstironisch die Präsidentschaftskandidatur des 39-Jährigen.
Falls Macron die Wahlen gewinnt, wird Brigitte Macron jedenfalls eine ganz besondere Première Dame. In der Emma jubelte Alice Schwarzer: "Dank seiner 1953 geborenen Lebensgefährtin dürfte der 39-Jährige sich die so euphorischen und politisierten Jahre des Aufbruchs von Frankreich, die späten 60er und die 70er Jahre, hautnah angeeignet haben. Der 39-Jährige verkörpert also eine Erfahrungsspanne, die breiter ist als sein Leben." So gesehen ist er ja auch schon siebenfacher Opa.
Louis Aliot, seit 2009 Lebensgefährte von Marine Le Pen, ist ein Urgestein des Front National (FN) und derzeit auch Parteichef. Bis zur Stichwahl war er Vize-Parteichef. Der 47-Jährige trat nach dem Jusstudium in Toulouse der Partei bei, die damals von Jean-Marie Le Pen geführt wurde. Aliot stieg ganz schnell vom Referatsleiter zur rechten Hand des Patriarchen auf. 2002 war er für die Präsidentschaftskampagne mitverantwortlich, die Jean-Marie Le Pen in die Stichwahl gegen Jacques Chirac brachte. 2005 wurde er FN-Generalsekretär.
Aliot hat zwei Kinder aus einer früheren Beziehung. Marine Le Pen lässt er den Vortritt – er ist Mastermind und Wahlkampfmanager. Seit zwei Wochen ist er auch offiziell Parteichef, da Marine nur noch als Präsidentschaftskandidatin "für alle Franzosen" auftreten wollte. Dem Magazin Paris Match verriet Aliot, sein Lieblingslied sei "Être une femme" (Eine Frau sein) von Michel Sardou. Darin träumt ein Mann davon, eine Frau zu sein, die dank Sex-Appeal und Schlagkraft alles werden kann – sogar Präsidentin Frankreichs.
Der Europaabgeordnete Aliot tritt stets mit Anzug und Krawatte auf und geht wie ein Prinzgemahl meistens drei Schritte hinter seiner Frau. Als "First Husband" würde er vermutlich kein Ministeramt bekommen, aber dafür im Hintergrund mitmischen.
Vor zwei Wochen ging eine Welle der Erleichterung durch das SPÖ-Lokal in der Lindengasse 62. Mehrere Dutzend Auslandsfranzosen hatten sich eingefunden, um die Wahlentscheidung zu verfolgen. Heute, Sonntag, Abend wird es dort wieder ein Public Viewing geben. Es bleibt abzuwarten, ob es diesmal Grund zur Freude gibt. Der KURIER hat sich jedenfalls noch einmal bei jenen Auslandsfranzosen umgehört, die er vor der ersten Wahlrunde interviewt hat.
Für Ludovic Ferriere etwa repräsentiert die Stichwahl den aktuellen Zustand Frankreichs: "Die Kandidaten sind sehr unterschiedlich – für oder gegen Europa." Für ihn und all seine Freunde ist die Entscheidung klar: Sie werden Macron wählen.
Sylvie Köck-Miquel, Präsidentin des Vereins für Auslandsfranzosen ADFE, glaubt dennoch nicht, "dass es ein großer Sieg für Macron wird".
Mit 46,7 Prozent für den unabhängigen Kandidaten Emmanuel Macron und nur 3,9 Prozent für die rechtsextreme Marine Le Pen unterschied sich auch beim ersten Wahldurchgang das Ergebnis der österreichischen Auslandsfranzosen deutlich vom Gesamtwahlergebnis. "Ich bin auch lieber im Vorhinein pessimistisch, als nachher schlimm enttäuscht", sagt Köck-Miquel. Auch sie hofft, dass es der männliche Kandidat schafft. "Ich bin natürlich nicht gegen Le Pen, weil sie eine Frau ist. Ich würde eine Frau an der Spitze sogar sehr begrüßen. Aber diese Frau, das geht nicht."
Der Politologe Michel Cullin hat indes Sorge, dass viele gar nicht wählen gehen könnten. Er ist deshalb am Samstag nach Paris geflogen. Es sei wichtiger denn je, Präsenz in der Heimat zu zeigen.