Politik/Ausland

Ein erster Hoffnungsschimmer in der Ukraine

Den Protest auf dem Maidan im Zentrum Kiews könnte man mit einem Stehaufmännchen vergleichen. Nach dem Schrecken vom Donnerstag, als im Zentrum Kiews bei Schießereien geschätzte 77 Menschen starben, kamen am Freitag erneut Zehntausende, um zu demonstrieren. Das, während Zivilisten um Kiew Schnellstraßen sperren, um Busse mit regierungstreuen Schlägern abzufangen. In Kiew soll es rund um das Regierungsviertel am Freitag zu Schießereien gekommen sein. In Anbetracht der Umstände blieb es aber relativ ruhig. Und: Erstmals dämmerte eine mögliche Lösung.

In einer Dringlichkeitssitzung im Parlament hatten sich Opposition und Teile der Regierungsfraktion in der Nacht auf Freitag auf Maßnahmen zur Deeskalation geeinigt. So sollten Einheiten der Sonderpolizei aus Kiew abgezogen, verbliebenen Einheiten sollte der Einsatz scharfer Munition verboten werden. Am Freitag wurde dann der Innenminister seines Amtes enthoben – und das Parlament beschloss ein Gesetz, wonach Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko bereits in Kürze frei kommen könnte.

Eine Nachlese der Ereignisse vom Freitag finden Sie hier.

Zugleich verhandelten die Außenminister Deutschlands und Polens, Frank-Walter Steinmeier und Radoslaw Sikorski, sowie ein russischer Abgesandter in Kiew. Offensichtlich kam es zu einer Einigung zwischen den EU-Ministern und der ukrainischen Führung: Noch am Nachmittag segnete das Parlament eine Rückkehr zur alten Verfassung von 2004 ab. Das kommt einer klaren Entmachtung von Präsident Viktor Janukowitsch gleich. Auch Neuwahlen und der Bildung eines "Kabinetts des nationalen Vertrauens", einer Übergangsregierung, hat der Präsident zugestimmt. Das Abkommen wurde am Freitag unterzeichnet.

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Die Führer der Opposition, die den Deal ausgehandelt hatten, wurden am Abend mit Buhrufen auf dem Maidan empfangen. Die Einigung stößt auf Ablehnung, denn nur ein bedingungsloser Rücktritt Janukowitschs kommt für die breite Masse in Frage – bis heute, Samstag. Am späten Abend berichteten ukrainische Medien, dass Präsident Janukowitsch die Hauptstadt Kiew in Richtung Charkiw verlassen habe. Zuvor habe er persönliche Dinge aus seiner Residenz abholen lassen.

Auch der russische Abgesandte Wladimir Lukin, der an den Konsultationen beteiligt war, soll sich laut Interfax geweigert haben, das Abkommen zu unterzeichnen – wenn auch aus anderen Gründen. Die Frage ist jetzt, wie eine russische Reaktion aussehen wird – und inwieweit Janukowitsch noch die Kontrolle über das Land hat.

Viele Mandatare seiner Partei der Regionen verweigern die Gefolgschaft und Mitglieder der Partei treten in Scharen aus. Einer davon ist der Unternehmer Serhi Bykov, der eben noch ein treuer Anhänger des Präsidenten war. Gegenüber dem KURIER sagte er, ein Präsident sollte "die Kraft haben, seinem Land zu dienen". In dieser Krise habe Janukowitsch versagt. Die Verantwortung für die Blutorgie vom Donnerstag müsste geklärt und geahndet werden.

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Ein zweiter Flügel in der Partei geht andere Wege: Eine Abordnung von Parlamentariern der Partei der Regionen soll derzeit in der Ostukraine unterwegs sein, um die Loslösung der östlichen Regionen vom Westen vorzubereiten – ob im Staatsverband oder als tatsächliche Abspaltung wurde nicht präzisiert.

Zugleich kriselt es im Sicherheitsapparat. Aus Protest gegen das Vorgehen der Regierung trat Vize-Armeechef Juri Dumanski zurück. Auf der Bühne des Maidan trat am Freitag eine geschlossene Abordnung der Polizei aus Lemberg auf – um sich danach zu den Demonstranten auf die Barrikaden zu stellen. Feierstimmung wollte noch nicht aufkommen – zu groß ist das Misstrauen in Aussagen und Versprechungen Janukowitschs.

Für Russen beginnt eine Debatte über die Identität der Ukraine vor mehr als einem Jahrtausend: Die Kiewer Rus, ein mittelalterliches Großreich, habe die Gebiete des heutigen Russland, der Ukraine und Weißrusslands vereint: Unauflöslicher historischer Kitt, der diese drei Staaten bis heute zu einem Kulturraum zusammengefügt habe. Polen erinnern an ihr Großreich, das einst auch den Großteil der Ukraine umfasste. Österreicher erwähnen gerne, dass Galizien und dessen Metropole Lemberg einst zur K.-u.-k-Monarchie gehörten.

Die Ukraine hat nicht eine Geschichte, sie hat viele Geschichten – und die werden oft von verfeindeten Völkern erzählt. Wenn Russland bis heute den Nachbarn als Teil seiner politischen und kulturellen Einflusssphäre beansprucht, übergeht man dabei, dass dieser Anspruch über Jahrhunderte immer wieder mit der Unterdrückung anderer Völker und Kulturen und mit unfassbaren Verbrechen einherging: Vertreibung und Unterdrückung der Tataren, Vernichtung der Kultur der ukrainischen Kosaken. Der millionenfache Hungertod der ukrainischen Bauern bei der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in der Sowjetunion unter Stalin.

Diese und viele andere historische Verbrechen haben sich tief in das Unterbewusstsein der Bevölkerungsgruppen eingegraben. Rache und wieder Rache ist bis heute ein Motiv, das die ukrainische Politik überschattet.

Das ganze 20. Jahrhundert über ist die Ukraine ein Schlachtfeld, auf dem der Machtkampf zwischen Deutschland und Russland ausgetragen wird. Der deutsche Sieg über Russland (1917) produziert einen unabhängigen ukrainischen Staat, der sich vor allem über den Hass auf Russland definiert. Die Kommunisten zerstörten ihn und machten die Ukraine zur Sowjetrepublik.

Grenzen verschoben

Stalins Vernichtung des ukrainischen Bauernstandes lässt diesen Hass auf Russland vor allem im landwirtschaftlich geprägten Westen des Landes weiter wachsen. Die Industriegebiete im Osten des Landes werden unter Stalin russifiziert.

Als Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg die Sowjetunion angreift, wird die Wehrmacht anfangs von vielen Ukrainern als Befreier begrüßt. Sogar ukrainische SS-Einheiten werden gebildet, die beim Massenmord an den ukrainischen und russischen Juden mitmachen. Nach dem Sieg über Hitlerdeutschland wird die Ukraine durch den Beschluss der Alliierten willkürlich um Hunderte Kilometer nach Westen verschoben. Große Teile Polens sind auf einmal Teil der Ukraine.

Gerade diese Regionen sind es heute, die vom Hass auf Russland geprägt sind. Die Regierung in Kiew ist für sie nur der verlängerte Arm Moskaus und damit ein Instrument der Unterdrückung. In der Westukraine sind die Hochburgen der radikalen ukrainischen Nationalisten. Ihre Helden sind jene, die gegen Russland gekämpft haben: Egal, ob als Kosaken, Partisanen oder in SS-Uniform.

Auch was das Finanzielle betrifft, verschärft sich die Situation der Ukraine. Dem Land droht das Geld auszugehen. Am Freitag stufte die US-Ratingagentur Standard & Poor’s die Kreditwürdigkeit der Ukraine – zum zweiten Mal innerhalb von drei Wochen – zurück. Die Bonitätsnote von jetzt "CCC" bedeutet: Staatsanleihen gelten als hochspekulative Geldanlage. Anleger, die der Ukraine Geld borgen, indem sie Staatspapiere kaufen, müssen mit Zahlungsausfällen rechnen. Nur bei günstiger Entwicklung seien keine Ausfälle zu erwarten, lautet die Beschreibung für das Triple-C.

Die Möglichkeit, Geld zu verlieren, hat am Freitag prompt viele Investoren abgeschreckt. Die Ukraine wollte sich eigentlich mit der Ausgabe einer fünf Jahre laufenden Anleihe insgesamt zwei Milliarden Dollar besorgen. Das Finanzministerium musste die Aktion allerdings abblasen, weil sich zu wenige Interessenten fanden. Anders als von der Ukraine erhofft, wollte auch Russland die Papiere nicht kaufen. Sollte sich die Lage im Land nicht erheblich zum Positiven wenden, werde die Ukraine bald zahlungsunfähig sein, ist man bei Standard & Poor’s überzeugt.

Ein Pleitefall würde nicht nur Finanzinvestoren treffen. Geht dem Land das Geld aus, könnten etwa Staatsdiener oder Sozialleistungen nicht mehr bezahlt werden.

Geldinstitute

Banken, die Tochterunternehmen im Krisenland haben, machen sich Sorgen um ihre Mitarbeiter. Die Raiffeisen Bank International, mit 800 Aval-Filialen vertreten, hatte alle Filialen in der Hauptstadt geschlossen. Am Freitag wurden sie – bis auf fünf im Zentrum – wieder aufgesperrt. Die Bank Austria (380 Filialen) ließ vier Filialen in der Nähe des Maidan zu, alle anderen wurden bis 15 Uhr geöffnet. Die Pläne, ihre ukrainischen Töchter zu verkaufen, werden die beiden wohl einige Zeit auf Eis legen müssen.