Dilmas Debakel spaltet Brasilien
Von Walter Friedl
Als Sonntagnacht um 23.07 Uhr Ortszeit der 342. Abgeordnete für das Amtsenthebungsverfahren gegen die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff stimmte und damit die nötige Zweidrittelmehrheit erreicht war, brach in der Parlamentskammer frenetischer Jubel aus. Rousseffs Rivalen fielen einander um den Hals. Andere Mandatare schwangen die Brasilienflagge und sangen Schlachtgesänge wie auf Fußballplätzen.
Auch in zahlreichen Städten ließen die Gegner der Staatschefin von der linken Arbeiterpartei (PT) – alleine in São Paulo waren es mehr als 300.000 – ihrer Freude über Rousseffs Debakel freien Lauf. Während die Anhänger der aktuellen Regierung ihre Wunden leckten. Damit verschärft sich die Krise wenige Monate vor Beginn der Olympischen Spiele Anfang August dramatisch.
Neubeginn oder Schlag
"Heute ist ein großer Tag für Brasilien. Es wurde ein Neubeginn gesetzt: Gegen Korruption, für eine bessere Zukunft", sagte die 24-jährige Studentin Iris auf der Kundgebung auf der Copacabana in Rio de Janeiro. Auf ihre Wangen hatte sie die Nationalfarben gelb-grün aufgemalt. "Das war ein Schlag gegen unsere Demokratie, ein Putsch der Rechten, gegen den wir uns wehren", formulierte dagegen der 73-jährige Bauer Amelio Pagio. Der ehemalige PT-Gemeinderat von Itanhem im Süden des Bundesstaates Bahia profitierte wie viele kleine Landwirte und Arbeiter von den Reformen nach der Machtübernahme der Arbeiterpartei vor 14 Jahren.
Senat am Zug
Jetzt freilich könnten die Tage der Herrschaft der Arbeiterpartei gezählt sein. Nach dem Votum im Abgeordnetenhaus, das bei namentlicher Abstimmung mehr als fünf Stunden lang dauerte und live im Fernsehen übertragen wurde, ist der Senat am Zug. Sollten die 81 Volksvertreter Mitte Mai ebenso zur Meinung gelangen (es reicht eine einfache Mehrheit), dass Staatschefin Dilma Rousseff im Wahlkampf 2014 die Budgetzahlen geschönt habe, ist sie für ein halbes Jahr suspendiert. Zwischenzeitlich übernähme ihr Vize Michel Temer die Amtsgeschäfte. Danach könnte die zweite Kongress-Kammer mit Zweidrittelmehrheit die endgültige Absetzung beschließen.
Countdown
Bei den vielen "Public Viewings" im ganzen Land wurde am Sonntag jede Ja- beziehungsweise Nein-Stimme lautstark bejubelt – je nach Lagerzugehörigkeit. Im Plenarsaal zählten die Abgeordneten wie zu Silvester die fehlenden Stimmen für ein Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff runter: tres, dois, um.
Desolate Wirtschaft
In den kurzen Statements der Rousseff-Gegner (jeder Mandatar hatte zehn Sekunden Zeit, seine Entscheidung zu begründen) ging es weniger um die vermeintlichen Verfehlungen der Präsidentin, sondern um den riesigen Korruptionsskandal rund um den staatlichen Ölkonzern Petrobras mit Schmiergeldzahlungen an zahlreiche Politiker, in den auch die Arbeiterpartei verwickelt ist. Und um die desolate Lage des Landes: fast zehn Millionen Arbeitslose, Wirtschaftsrückgang im Vorjahr um 3,7 Prozent, dazu fast zehn Prozent Inflation und hohe Lebenshaltungskosten; die Rezession könnte sich zur schlimmsten seit den 1930er-Jahren auswachsen. Die Anhänger der Staatschefin, die nur 137 Abgeordnete hinter sich versammeln konnte, wetterten gegen den "Putsch" der Konservativen.
Die Arbeiterpartei hat nach der Abstimmung jedenfalls angekündigt, mit ihren Verbündeten in den kommenden Wochen und Monaten die Straße zu mobilisieren. Damit will sie Druck auf die Senatoren ausüben, doch noch die Amtsenthebung abzulehnen (was nach dem ersten klaren Votum mit 367 Ja-Stimmen aber unwahrscheinlich ist). Das rechte Lager wird dagegenhalten. Und das wird die ohnehin schon total polarisierte Gesellschaft Brasiliens weiter spalten und zu einer explosiven Lage im Land am Zuckerhut führen.