Politik/Ausland

Die Rüpelbande im britischen Unterhaus und ihre Rituale

Hat er bei seinem Vater, der einst ein Taxi durch London kutschierte, Anleihe genommen, oder doch bei seinem großen Vorbild von Kindheit an: Margaret Thatcher? John Bercow kann sich auf jeden Fall Respekt verschaffen – und das sogar in einem Haufen bemerkenswert schlecht erzogener Zeitgenossen. Der 55-Jährige ist Sprecher des Londoner Unterhauses und damit eigentlich dessen Kommandant.

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Was anderswo eine meist eher zeremonielle Funktion ist, rangiert in Westminster irgendwo zwischen Schulmeister, Theaterregisseur und Komödiant – zumindest seit Bercow den prestigeträchtigen Posten innehat. Gerade in der Debatte um den Brexit hat der frühere Abgeordnete der Konservativen inzwischen Starstatus. Allein seine mit marktschreierischer Wucht vorgebrachten Ordnungsrufe („order, order“) kriegen auch die wildeste Parlamentssitzung unter Kontrolle.

Ohrenbetäubend

Und wild sind diese Sitzungen tatsächlich. Wer einmal ein paar Stunden auf den Zuschauerrängen des Unterhauses verbracht hat – am besten während der jüngsten Eskalation der Brexit-Krise – erlebt ein Spektakel, das die Fernsehbilder gar nicht in seiner vollen Dramatik einfangen können. Allein die Lautstärke, mit der hier diskutiert, dazwischen gerufen, geschimpft, höhnisch gelacht wird, ist für einen Kontinentaleuropäer irritierend.

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Da gehen Reden der Premierministerin im lärmenden Spott von den Oppositionsbänken unter, und im Gegenzug kriegen sich die Abgeordneten der Regierung gar nicht ein vor Lachen, wenn Labour-Chef Jeremy Corbyn wieder einmal Neuwahlen einmahnt. In ähnlicher Lautstärke werden auch die Spieler der eigenen Mannschaft unterstützt.

Das rituelle Standardformat für Zustimmung – und das seit dem 17. Jahrhundert – ist das im Chor vorgetragene „hear, hear“. Ein Ersatz für das Klatschen, das im britischen Unterhaus kategorisch verboten ist. Als es eine Gruppe beherzter Schotten, vor ein paar Jahren trotzdem probierte, bekamen sie einen strengen Ordnungsruf von Sprecher Bercow. Die gegnerische Seite setzt mit „no,no“ dagegen. Bei einer heftigen Debatte wie etwa in den jüngsten Tagen in der Brexit-Krise entwickelt sich „hear, hear“ gegen „no, no“ zu einem regelrechten Zweikampf um die Lufthoheit unter dem neogotischen Dachgewölbe .

Bei Schimpfen Rauswurf

Doch Reden werden nicht nur lautstark kommentiert, sie werden auch ständig durch Zwischenrufe unterbrochen. Dabei sind wüste Schimpfworte verboten , werden mit Ordnungsrufen, und im schlimmsten Fall mit Hinauswurf bestraft.

Da kann es schon genügen, den Premierminister lauthals „zwielichtig“ zu nennen, schon darf man den ganzen Tag nicht mehr den Sitzungssaal betreten. Das Risiko aber gingen einige Abgeordnete während der Brexit-Debate bereitwillig ein. Was ist schon ein Platzverweis gegen den Spaß, die Rede der Regierungschefin lautstark mit „rubbish“ („Unsinn“) zu quittieren.

So richtig verübeln kann man den Abgeordneten ihr schlechtes Benehmen nicht. Schließlich werden sie auch im Sitzungssaal unter Bedingungen gehalten, die jeden Tierschützer empören würden.

Der Platz in den grünen Sitzreihen ist so eng bemessen, dass sich schon schlanke Parlamentarier regelrecht nebeneinander einfädeln und jede ausladende Geste tunlichst vermeiden müssen. Wer einen beleibten Herren in seiner Reihe hat, muss auf seinen Händen sitzen. Umso entspannter geht es in den Sitzungspausen zu. Da machen es sich viele gemütlich, indem sie die Füße auf die Vorderbank legen. Schlechte Manieren, die Sprecher Bercow übrigens nicht ahndet. Der sitzt ja auch als einziger im ganzen Saal bequem – auf einem gut gepolsterten Lehnsessel.