Politik/Ausland

"Kalte Progression" setzt Koalition zu

Wie schnell sich die Zeiten ändern: Vor etwas mehr als einem Jahr scheiterte die damals noch schwarz-gelbe Koalition Merkels im Bundesrat an dessen Mehrheit rot-grün regierter Länder beim Versuch, die Kalte Progression abzumildern. Das hatten Union und FDP schon 2010 erfolgreich getan. Im schon angelaufenen Bundestagswahlkampf umwarben Merkels Union und die FDP die Leistungsträger: Wer in der derzeit guten Konjunktur endlich brutto mehr verdiente, sollte auch netto mehr haben und nicht mehr alles durch die überproportional steigende Steuer dem Fiskus abgeben müssen. Dieser bei Spekulanten Windfall-Profit genannte Zustand bringt Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) heuer mehr als vier Milliarden Euro.

SPD und Grüne aber wollten damals davon nichts wissen und im Gegenteil die Steuern noch stärker erhöhen: Die Umverteilung zu bildungsfernen und armen Schichten, ihrer erhofften Wählerklientel, sei nur so zu finanzieren.

Zehn Monate später ist alles anders rum. Nachdem seit der Wahl Mittelstandsvertreter der CDU hartnäckig die Milderung der Kalten Progression forderten, bekamen sie vor einem Monat unerwartete Schützenhilfe: Die neue DGB-Spitze spürt den Unmut ihrer Facharbeiter-Klientel, der in schlechten Fällen von den derzeit höchsten Lohnzuwächsen seit 2007 nichts bleibt.

Spielraum

Diesen Unmut wittert nun auch SPD-Chef Sigmar Gabriel. Am Sonntag forderte er ein Umdenken: Die "sprudelnden Steuereinnahmen und viele zweifelhafte Ausgaben des Staates" gäben genug Spielraum, um die Kalte Progression für die Mittelschicht zu mildern. Und das ganz ohne den noch vor der Wahl von ihm und dem linken SPD-Flügel weiterhin geforderten Ausgleich durch das Schröpfen der "Reichen" mittels höherem Spitzensteuersatz, Vermögens- und Erbschaftsteuern. Denn Gabriel wittert noch etwas: ein mögliches Problem für die Kanzlerin.

Merkel hat sich mehrfach seit der Wahl festgelegt: Für den Abbau der Kalten Progression gäbe es "derzeit keinen Spielraum". Oberstes Ziel dieser Legislaturperiode bleibe ein Neuschulden-freier Bundeshaushalt, wie im Koalitionsvertrag mit der SPD vereinbart.

Noch härter verteidigt ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) das Nein: Er hat nach seiner Wiederbestellung entdeckt, dass er als der deutsche Säckelwart Geschichte machen will, der als erster seit 1968 ohne neue Schulden auskommt. Doch der Druck auf ihn wird täglich stärker und reicht schon in die CDU-Chef-Stellvertreter-Riege Merkels: Zwei von fünf sind schon klar dafür.

Doch es wäre nicht Merkel, hätte sie nicht schon mindestens ein Drehbuch auch dafür: In Berlin wetten Insider darauf, dass 2016, kurz vor der nächsten Wahl, die Entlastung kommt. Kalkül: Dann hat Schäuble 2015 seine Ruhm-Trophäe geholt, die auch ein wichtiges Wahlargument für die Union ist. Und die Betroffenen danken Merkel für die Wohltat endlich leicht nachlassender Steuerlast – auch an der Urne.