Politik/Ausland

Gabriel nimmt sich Zeit fürs Kind

Die Wirtschaft brummt, die Beschäftigung ist höher denn je seit der Wiedervereinigung, und auch das Verbrauchervertrauen, das die Zuversicht der Deutschen in die Zukunft ausdrückt. Es ist also eine gute Zeit für neue soziale Wohltaten, wie Sozialpolitiker aller Parteien meinen. Und ganz besonders die der SPD, die die für den Boom hauptverantwortlichen Sozialreformen ihres Ex-Kanzlers Gerhard Schröder endlich vergessen machen will

Deshalb hat die Große Koalition von Kanzlerin Merkel gerade ihre Demografie-bedingte Rentenreform von 2008 teilweise rückgängig gemacht und einem Drittel aller Arbeitnehmer die „Rente mit 63“ versprochen. Und deshalb diskutiert man nun auch intensiv über „flexiblere Arbeitszeiten für Eltern“.

Gabriel: Vorbild aller Väter

Allen voran SPD-Chef Sigmar Gabriel. Er gibt sich als Vorbild aller Väter: Immer mittwochs 15 Uhr hole er Tochter Marie vom Kindergarten in Goslar ab (300 km von Berlin), denn „dieser Nachmittag gehört ihr“. Weil der Vormittag der Regierungssitzung (Ministerrat) gehört, geht der Vizekanzler öfters früher weg. Oder kommt wegen Marie als Einziger eine halbe Stunde zur Regierungsklausur zu spät.

Unwahrscheinlich daher, dass er von der Ankündigung Manuela Schwesigs, der neuen Familienministerin, Mutter eines sechsjährigen Sohnes, nichts ahnte: Das SPD-Gegenmodell zur bekannteren CDU-Sozialpolitikerin Ursula von der Leyen hatte nur drei Wochen nach Regierungsbeginn der überraschten Öffentlichkeit eine vom Staat mitbezahlte 32-Stunden-Woche für Mütter und Väter versprochen – mit gesetzlichem Anspruch darauf und den Joberhalt. Merkel tat diese im Koalitionsvertrag mit keinem Wort erwähnte Idee als „persönliche Vision“ ab. Schwesig nahm sie kleinlaut zurück, ist nun aber bekannter als zuvor.

Trendthema

Das Thema liegt im Trend. Der DGB fordert weitere Arbeitszeitkürzungen und Jobgarantien für Eltern, was zuletzt in einer Tirade der DGB-Vizechefin gegen den „Anwesenheitswahn“ der deutschen Wirtschaft gipfelte.

Unionspolitiker vom Arbeitnehmerflügel stehen dem kaum nach, auch wenn sie, anders als der DGB, nicht das Wirtschafts-marode Frankreich als Vorbild zitieren: Verteidigungsministerin von der Leyen, legendäre siebenfache Mutter mit viel Hauspersonal, profilierte sich rasch in ihrer neuen Rolle als Verteidigungsministerin mit der Ansage, sie werde als Erstes für eine bessere Vereinbarkeit von Dienst und Familie für die 180.000 Soldaten sorgen. Natürlich begrüßten Personalvertreter die von ihr nicht spezifizierten und finanzierten Erleichterungen für die Reform-müden Bundeswehrler.

Die Wirtschaft aber lehnt mehr Hilfsgesetze ab, nicht nur weil ihre Finanzierung ohne neue Schulden völlig offen ist: Niemand hindere die Unternehmen daran, Beschäftigten mit Kindern mehr Hilfe zu geben, was auch zunehmend geschehe. Schon weil bei 1,6 Millionen Vollzeitbeschäftigten mit Kindern bis drei Jahren, davon 500.000 Akademikern, der Fachkräftemangel sonst noch schärfer wäre. Fest steht: Viele der derzeit forciert ausgebauten „Kitas“ sind bisher nur halb voll.

Medienwirksam verkündete Vizekanzler Sigmar Gabriel, dass er jeden Mittwochnachmittag für seine zweijährige Tochter reserviert hat. Er eilt von Berlin nach Goslar, um Marie vom Kindergarten abzuholen. Dafür wird er nun als Teilzeitminister verhöhnt. Hat er das verdient?

Nein. Denn es ist – auch wenn er damit auf Wählerstimmen hoffen mag – zumindest ein Signal in unserer arbeits- und karrierefixierten Gesellschaft.

Ja. Denn mit Teilzeit und dem schmerzhaften Spagat zwischen Familie und Beruf hat das natürlich gar nichts zu tun – nicht nur wegen Gabriels Einkommen als „Superminister“ und seiner 70-Stunden-Arbeitswoche.

Was weiß er schon von der Angst, bei Teilzeit weg vom Fenster zu sein? Und was von empfindlichen Einkommenseinbußen? Was weiß er von der Sorge, gekündigt zu werden, weil man als Teilzeitkraft „eh nie da ist“? Und dem Druck, in weniger Zeit so viel wie die anderen zu schaffen? Was weiß er davon, wie es sich anfühlt, nicht mehr ganz dazuzugehören? Irgendwo im Unternehmen „verräumt“ zu werden? Karrieresprünge vergessen zu müssen? Und gleichzeitig immer zu überlegen und zu planen, wer, wo, wann den Nachwuchs abholt, versorgt, mit ihm spielt, lacht oder die Tränen abwischt. Von zu vielen Krankheitstagen für den begrenzten Pflegeurlaub und den zu überbrückenden Ferientagen ganz zu schweigen. Aber es ist gut, wenn durch Gabriel eine Debatte über den „ganz normalen Wahnsinn“ angefacht wird.