Politik/Ausland

Christen in Israel: Raus aus der Opferrolle

Auch zu Weihnachten vergießen wir Christen im Nahen Osten Tränen.“ Bischara Schlayan denkt an die zunehmende Gewalt gegen Christen in vielen arabischen Staaten. Der 58-jährige Schiffskapitän lebt in Nazareth, der Stadt, in der Jesus aufwuchs. Wie er leben 120.000 arabische Christen in Israel. Verstört und aufgewühlt nehmen sie die Nachrichten von Massakern gegen Christen in Syrien, dem Irak, Ägypten und anderen Staaten in Nahost auf. Ihr Blick richtet sich auf die Nachbarländer, doch auch auf Israel.

Es gab Zeiten, da galten die palästinensischen Christen als radikalere Kämpfer im nationalen Kampf als die Muslime. Doch aus dem nationalen Kampf der Palästinenser wurde zunehmend ein islamischer.

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Junge Christen haben keine Erinnerungen an alte Zeiten: „Ich will mich in keine Opferrolle einpassen lassen“, meint Amir Schlayan. Bischaras Sohn meldete sich freiwillig zum Wehrdienst in der israelischen Armee. Jahrelang kämpfte er „für mein Recht“. Ließ Untersuchungen des Geheimdienstes über sich ergehen, bis er „endlich“ die Uniform anziehen konnte: „Syrien liegt nur 80 Kilometer von hier: Mit all unseren Problemen als Minderheit in Israel können wir froh sein, in einer Demokratie zu leben.“

Den Schritt zum Armeedienst machte bisher nur eine kleine Randgruppe. Doch weist er auf einen breiteren Trend: Immer mehr junge Araber zeigen wachsende Bereitschaft, sich in Israels Gesellschaft zu integrieren. Christen fällt dies leichter. Es wächst aber auch die Zahl junger Muslime, die neue Wege im Judenstaat suchen: Raus aus der Opferrolle.

Neue Mittelschicht

Sie passt vielen nicht mehr. Ihrem Einkommen nach gehören viele christliche Familien zum Mittelstand Israels. Unter ihnen gibt es (relativ) deutlich mehr Maturanten und sogar drei Mal mehr Medizinstudenten als in der jüdischen Bevölkerung. Und nicht nur die Christen: 2012 stand Israels erfolgreichste Schule im drusischen Dorf Bet Dschann.

Obwohl in den vergangenen Jahren die politische Führung der Araber in Israel Integration nicht als Ideal ansah: Sie strebte nach Trennung von der jüdisch geprägten Umwelt. Nach Stärkung autonomer Rahmen. Anerkennung als „nationale arabische Minderheit“ mit autonomen Rechten fordert die nationalistische Balad-Partei.

Für den arabischen Journalisten Chaled Abu Toame ein Widerspruch in sich: „Der Kampf um politische Rechte ist längst vorbei, sonst säße Balad ja nicht im Parlament.“ Als Folge sieht er schrumpfendes Vertrauen der arabischen Wähler in ihre Volksvertreter.

Was Abu Toameh auf mehrere Trends zurückführt, die sich in den vergangenen Jahren verstärkten: Die iPad-Generation von heute ist freier von gesellschaftlichen wie familiären Zwängen. Sie sozialisiert sich verstärkt auch global übers Internet – was sie nicht nur digital dem Hightech-Staat Israel annähert. Wichtigstes Indiz für Abu Toameh ist die wachsende Bereitschaft junger Araber, Zivildienst zu leisten.

„Keiner heiratet euch!“

Seit dem Abflauen der Begeisterung für den Arabischen Frühling kam es 2012 fast zu einer Verdoppelung der Zahl der Freiwilligen auf 3000. In jüngsten Umfragen war eine deutliche Mehrheit der Jugendlichen „grundsätzlich“ zum Zivildienst bereit. Vor 15 Jahren war es noch eine verschwindende Minderheit.

Vor allem junge muslimische Frauen melden sich. Ein stetiger Prozess mit vielen Rückschlägen. Vor allem in Kriegszeiten. Über die Jahrzehnte mit steigenden Zahlen, die Autonomie-Befürworter wie die Balad-Partei in Panik versetzen: Sie drohte den jungen Zivildienst-Frauen: „Keiner wird euch heiraten.“

Nusseyba Chatib, ein Ex-Zivi, will die Zahlen noch steigern. „Zivildienst ist für Araber wie für den Staat eine Bereicherung. Hier entwickeln sich neue Führungskader.“

Der Zivildienst ist fest in der Hand der Religiös-Nationalen Partei. Für die steht das Streben nach voller Gleichstellung arabischer Bürger nicht ganz oben. Sie wäre aber die unausweichliche Folge einer Gleichstellung der Pflichten.

So leistet die Regierung viel Lippendienst und wenig Konkretes. Die Chance wird nicht voll genutzt. Wie Israels Araber auf die Nachbarstaaten blicken, schauen diese zurück. Auch dafür ein Indiz: In nur drei Tagen klickten 30.000 Araber von Syrien bis Saudi-Arabien ein Angebot der Technischen Hochschule in Haifa zu einem arabischsprachigen Fernkurs für Nano-Science an.

Die Gesamtzahl der Christen in Nahost mit über 20 Millionen war niemals höher. Doch vor 50 Jahren stellten Christen 20 Prozent der Bevölkerung in Nahost. Heute dürfte der Anteil nur noch bei 5 Prozent liegen. Grund dafür ist nur zum Teil eine niedrigere Geburtsrate. Immer mehr wandern aus der verstärkt islamisierten Umwelt aus.

Syrien: Hier ist eher von Flucht statt Auswanderung die Rede. Die Zahl gewaltsamer Übergriffe durch radikale Salafisten, die El Kaida nahestehen, steigt rasant. Ebenso die Zahl der christlichen Flüchtlinge.

Irak: Viele Christen, die im Irakkrieg vor zehn Jahren nach Syrien flüchteten, kehren zwar zurück. Aber: 2003 gab es 800.000 Christen (drei der Bevölkerung). Heute sind es noch immer weniger als die Hälfte. Zuletzt sank die Zahl der Pogrome. Doch gerade die vermehrte Rückkehr von Christen droht, neue Gewalt zu provozieren.

Ägypten: Die Kopten machen ein Zehntel der Bevölkerung aus. Der Arabische Frühling und später die Entmachtung der Muslimbruderschaft führten zu einer steigenden Zahl an Übergriffen. Auch am Nil durch salafistische Gruppen. Die neue Militärregierung bekämpft diese mit wechselnden Erfolgen. Palästinensergebiete: Das Leben unter der israelischen Besatzung ist für Muslime wie für Christen schwer. Doch die Auswanderung fällt den meist gut ausgebildeten Christen leichter. Ihr Anteil sank seit 1948 von 20 auf zwei Prozent. Heute leben mehr palästinensische Christen im Ausland als in der alten Heimat.

Im Gazastreifen sank die Zahl der Christen seit der Machtübernahme durch die islamistische Hamas um mehr als die Hälfte. In den Vorjahren nutzten viele die Ausreiseerlaubnis nach Bethlehem zu Weihnachten zum Absprung und kehrten nicht zurück.

Südsudan: In der neuen Republik nehmen Christen, etwa 50% der Bevölkerung, eine entscheidende Stellung ein. Angriffe sudanesischer Milizen sind seltener geworden. Doch interne Kämpfe zwischen früheren Rebellen-Milizen sorgen weiter für Gewalt.