Umbau in der "Fabrik der Welt"
Von Evelyn Peternel
In der "Fabrik der Welt" sind die guten Schlafplätze kostbar. Der Mann am Ufer des Perlflusses weiß das – er muss sich schließlich Abend für Abend seinen Platz am Beton suchen, wo er auf einem Pappkarton, zugedeckt mit einem dürftigen Leintuch, die Nacht verbringt. Denn selbst im nobelsten Viertel der Provinzhauptstadt Guangzhou, in der sich zwischen Hochhäusern zwölf Millionen Einwohner drängen, müssen Menschen auf der Straße übernachten – obwohl sie einer Arbeit nachgehen: Jeden Tag verlässt der Mann in der Früh sein Quartier, um in einer der vielen Fabriken der südchinesischen Industrieregion zu arbeiten.
Zwei Klassen
Menschen wie ihn findet man in der Metropole zuhauf. Sie alle hat die Aussicht auf Geld hierher gebracht. Zu den 105 Millionen Einwohnern der Region Guangdong, die den Beinamen "Fabrik der Welt" wegen ihrer enormen Produktivität trägt, kommen noch geschätzte 30 Millionen Wanderarbeiter. Menschen zweiter Klasse, deren Heimat oft Tausende Kilometer entfernt liegt. Dort ist auch ihr Status geblieben. In der Region, in der sie arbeiten, genießen sie nämlich nicht dieselben Rechte wie jene, die dort geboren wurden.
"Hukou" nennt China dieses System der Klassen-Gesellschaft. Wanderarbeiter haben dadurch kaum Anrecht auf medizinische Versorgung, ihre Kinder erhalten nicht dieselbe Schulbildung wie der Nachwuchs jener mit Geburtsrecht. Seit Jahrzehnten strukturiert Peking so die soziale Situation im Reich der Mitte – und kurbelt die Wirtschaft an. Wanderarbeiter fungieren seit der Öffnung 1978 als billige Arbeitskräfte in Fabriken; sie stellen zu unmenschlichen Bedingungen Produkte ausländischer Marken her – nicht erst seit den Foxconn-Skandalen ein allzu bekanntes Bild. Mehr als ein Dutzend Arbeiter der Fabriken, in denen iPhones produziert werden, nahm sich deshalb das Leben.
Selbstbewusstsein
Langsam begehren die "Menschen zweiter Klasse" nun aber auf. "Es gibt ein neues Selbstbewusstsein, das sich vor allem in einem erhöhten Unrechtsbewusstsein zeigt", sagt Eric Florence, ein auf Arbeitsmigration spezialisierter Sinologe an der Universität Liège. Auffällig viele Chinesen würden mit ihrem Anliegen an die Öffentlichkeit gehen: "Die zweite Wanderarbeiter-Generation spricht plötzlich von der eigenen Würde. Sie lässt sich nicht mehr so leicht demütigen."
Im April legten etwa Tausende Demonstranten das Zentrum der Stadt Gabou in Guangdong lahm. Sie forderten höhere Löhne und bessere Sozialleistungen. "Die Proteste werden radikaler", sagt Florence – und sie werden mehr: Zehntausende solcher Streiks pro Jahr soll es geben, schätzt die NGO China Labour Watch.
Peking setzt dies zunehmend unter Druck. Unter der Ägide von Präsident Xi Jinping wurde deshalb ein Reformpaket verabschiedet, das die Wanderarbeiter ruhiger stimmen soll. In die Pflicht nehmen will man dafür vor allem die Arbeitgeber aus dem Ausland, die in China ihre als "Sweat Shops" verschrienen Fabriken führen. "Von 100 Yuan, die eine Fabrik hier mit der Produktion eines iPhones verdient, bekommt der Arbeiter nur maximal fünf – umgerechnet also 60 Cent", klagt Xu Shaohua, als Vizegouverneur der Region zuständig für die Reform. Wie die Vorschriften für Unternehmen konkret aussehen werden, lässt er offen – verprellen will man schließlich niemanden.
Konkret wird Xu nur, was den "Hukou" angeht: Knapp 60 Jahre nach der Einführung des strikten Systems soll es in Guangdong nun aufgeweicht werden – zumindest testweise. Wer seit drei Jahren einen fixen Job und auch einen Wohnort vorweisen kann, soll künftig Anspruch auf "ähnliche Sozialleistungen" wie die alteingesessenen Einwohner haben, sagt der Politiker. Auch ein Universitätsabschluss erleichtere die Registrierung am neuen Wohnort. Eine wirkliche Angleichung sei das aber noch nicht. Denn die wirklich guten Leistungen bleiben jenen vorbehalten, die das Geld hätten: "Ein Gesundheitszentrum für 300.000 Wanderarbeiter – das ist keine Gleichheit in der Gesellschaft", sagt Forscher Florence.
Dem Mann auf dem Pappkarton wird das vorerst ohnehin wenig helfen. In der Provinzmetropole startet der Testlauf nämlich noch nicht, der Versuch ist kleineren Städten vorbehalten. Und auch einen Universitätsabschluss wird der Mann vermutlich nicht vorweisen können. Für ihn hat Parteikader Xu derzeit nur einen "gut gemeinten Rat": "Jedes Individuum kann sich verbessern."
Die Autorin hat während ihrer China-Reise einen Blog verfasst - nachzulesen hier.
Spätestens, seit im Juni Zhou Yongkang verhaftet wurde, ist auch beim allerkleinsten chinesischen Lokalbeamten Feuer am Dach: Der frühere Sicherheitschef des Landes, einer der mächtigsten Männer des Riesenreiches, galt als absolut unantastbar. Jetzt sitzt das frühere Politbüromitglied hinter Gittern, gegen ihn wird wegen "ernsthafter Disziplinverletzungen" ermittelt – eine Umschreibung für Korruption.
Ein Riesenschreck fuhr denn auch den Lokalbeamten der Stadt Sihong (Provinz Jiangsu) durch die Glieder, als sich die Anti-Korruptionsermittler aus der Hauptstadt kurz nach der Verhaftung Zhous für Kontrollen ansagten. In einer Nacht- und Nebelaktion wurden Hunderte, mit Sand befüllte Lastwagen bestellt. Der Sand wurde auf die nagelneue Autobahn gekippt, darauf mussten Bauern in aller Eile schnell wachsende Sojabohnen pflanzen. Es half alles nichts: Die Ermittler aus Peking kamen den Beamten in Sihong sofort auf die Spur – sie hatten das Ackerland illegal umgewidmet und dabei jede Menge Geld eingestreift.
63.000 Verurteilte
Die Samthandschuhe sind ausgezogen. Dem von Staatspräsident Xi Jingping mit aller Vehemenz vorangetriebenen Kampf gegen die Korruption scheint in China niemand mehr zu entkommen – weder kleine Lokalbeamte noch die Allermächtigsten. Seit Xi vor knapp zwei Jahren zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei gekürt wurde, erlebt das Land die massivste Antikorruptionskampagne seiner Geschichte: 63.000 Parteifunktionäre wurden verurteilt, fast 30 von ihnen hatten mindestens den Rang eines Vize-Ministers – und dann zur Krönung sogar noch Ex-Politbüromitglied Zhou Yongkang.
Seither geht unter Chinas Partei-Eliten die Angst um. Überall wird neue Bescheidenheit zelebriert, Luxusrestaurants werden gemieden, in Fünf-Sterne-Hotels sind keine chinesischen Parteifunktionäre mehr zu finden. Selbst Bordelle spüren die neue Vorsicht ihrer betuchten Kunden, und auch Chinas größter Kondomhersteller klagt: Seit einigen Monaten stelle er eine Million Kondome pro Tag weniger her. Messbar ist die Zurückhaltung von Chinas Partei- und Geld-Elite auch in den Casinos Macaos. Dort sind die Monatsgewinne seit Juni erstmals gesunken.
So heftig Präsident Xi von der Bevölkerung für seinen Furor gegen die Korruption beklatscht wird, so argwöhnisch sehen dies China-Experten von außen. Im Visier der Ermittler stehen ausschließlich politische Gegner des Präsidenten, Freunden Xis hingegen droht keine Gefahr. Und von der Forderung, alle Parteifunktionäre mögen ihre Vermögen offenlegen, ist man in Peking noch weit weg. Drei Internet-Aktivisten, die dies im Netz gefordert hatten, fanden sich blitzartig im Gefängnis wieder.