Politik/Ausland

China: Reformen mit hohem Risikofaktor

Ein forsches: „Wer sind Sie?“ erschien der alten Frau unhöflich. Also fragte die Bäuerin im Dorf Shibadong, einem der ärmsten Orte der chinesischen Provinz Hunan, den stattlichen Mann an der Tür zu ihrem Häuschen: „Wie darf ich Sie ansprechen?“ – Als Staatspräsident Xi Jinping.

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Das entgeisterte die alte Frau weniger als die Begleiter des mächtigsten Mannes im Land. Peinlich berührt erlebten sie mit, dass in den bitterarmen, ländlichen Regionen des Riesenreiches die chinesische Staatsführung und deren große Ambitionen gefühlt mindestens genauso weit weg sind wie der Mond.

Knapp 700 Millionen Chinesen leben auf dem Land, die Mehrheit davon noch immer unter den kargsten Bedingungen. Es sind vor allem sie, die Chinas 200 höchste Parteifunktionäre vor Augen haben, wenn sie sich dieses Wochenende zur Sitzung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei (KP) in Peking versammeln.

Maos Erben:

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Liberalisierung

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Zur Diskussion stehen bei diesem Konklave des ZKs die großen Weichen für Chinas Wirtschaftspolitik. Und diese bergen enorme Risiken: Wie können dringend notwendige Reformen in Richtung Liberalisierung, Marktwirtschaft und mehr Wettbewerb vorangebracht werden, ohne die politische Kontrolle zu verlieren? Und wie kann die extrem arme Landbevölkerung, die Hälfte des Landes, am Wirtschaftsaufschwung teilhaben?

Eine Art „Masterplan“ für Reformen liegt beim sogenannten Dritten Plenum auf dem Tisch: Um die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt stabil zu halten, muss sie jährlich um mindestens 7,5 Prozent wachsen. Das aber, so weiß es auch die allmächtige KP, wird auf Dauer nur gelingen, wenn der Exportgigant China auch seine Binnennachfrage steigert.

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Größtes Hindernis dabei: Die arme Landbevölkerung und die rund 200 Millionen fast genauso mittellosen Wanderarbeiter. Eine angedachte Reform wäre die Änderung des rigorosen chinesischen Melde-Systems („Hukou“): „In China gibt es kein Recht auf Freizügigkeit der Personen. Dort, wo man registriert ist, erhält man Sozialleistungen. Geht man weg, verliert man sie alle“, schildert Sinologe Thomas Kampen (Universität Heidelberg) dem KURIER. Hunderte Millionen Wanderarbeiter in den Städten müssen also jeden Yuan beisammen halten, um zu überleben: Sie haben keine Krankenversicherung, keine Arbeitslosenunterstützung, kein Recht, ihre Kinder in der Stadt in die Schule zu schicken.

Kredite für Bauern

Eine Sozialversicherung für alle Chinesen steht deshalb ebenso zur Diskussion wie die vorsichtige Idee, den Bauern zu erlauben, ihre Häuser oder Felder mit Krediten belehnen zu dürfen. Aber eine Art freier Markt auf dem Land, gibt China-Experte Kampen zu bedenken, würde sofort zu gewaltigen Bevölkerungsverschiebungen führen. „Aus unserer Perspektive ist es schlicht unvorstellbar, wie man liberalisieren und gleichzeitig verhindern will, dass die großen Städte weiter extrem anwachsen.“

Das Prinzip „mehr Markt, weniger Staat“ soll sich offenbar durch alle Wirtschaftsbereiche ziehen. Die Liberalisierung der Finanzpolitik und des Bankenwesens stehen an diesem Wochenende ebenso zur Debatte wie mehr Konkurrenz für die schwerfälligen Staatsbetriebe. Von dort aber droht Präsident Xi Jinping und Premier Li Keqiang massiver Widerstand. Fast alle Branchen sind heute fest in den Händen mächtiger KP-Kaderfamilien: Den Telekommunikationssektor etwa steuern die Familien von Ex-KP-Chef Jiang Zemin. Die Erdölbranche ist mit den Familien von Ex-Vizepräsident Zeng Qinghong verbunden.

„Die Tiefe und Stärke der Reformen werden beispiellos sein“, versprach Staats- und Parteichef Xi Jinping vor dem Plenum. China-Experte Kampen setzte die Erwartungen niedriger an: „Es gibt in China immer eine große Differenz zwischen den Absichtserklärungen auf dem Papier und ihrer Ausführung als Gesetz.“ Er denkt eher an eine chinesische Redensart, die lautet: „Man überquert den Fluss, indem man sich von Stein zu Stein vorwärts tastet.“