Politik/Ausland

Brüssel: "So viel Gefahr wie überall anders auch"

10.000, diese Zahl sollte eigentlich beruhigen. Denn 10.000 mal höher liegt die Wahrscheinlichkeit in Europa, an einer Krebserkrankung zu sterben als durch einen Terroranschlag. Selbst ein tödlicher Verkehrsunfall gilt noch als 220 mal wahrscheinlicher, haben britische Forscher ausgerechnet. Und trotzdem schwingt ein Hauch von Angst und Traurigkeit immer mit dabei, wenn die U-Bahn durch die Brüsseler Metro-Station Maelbeek fährt. Hier zündete einer der Attentäter im März des Vorjahres seine Bombe, als die Garnitur gerade aus der Station losfuhr.

Zahllose U-Bahn-Züge sind seither hier gerollt, Zigtausende Menschen ein -und ausgestiegen, an dieser Haltestelle, die für immer jene sein wird, an der 16 Menschen von einer Sekunde auf die andere in den Tod gerissen wurden. In der Dutzende schwer verletzt überlebten und für den Rest ihres Lebens gezeichnet bleiben werden. Blumen im Gedenken an die Gestorbenen, jeden Tag liegen aufs Neue frische Sträuße hier, an einem der schmucklosen Ausgänge der U-Bahnhaltestelle Maelbeek.

Soldaten in der Stadt

Die bis an die Zähne bewaffneten belgischen Soldaten, die Tag und Nacht durch Brüssel patrouillieren, fallen nur noch Touristen auf. Wer in der belgischen Hauptstadt lebt und arbeitet, hat sich längst an den martialischen Anblick gewöhnt: Das Sturmgewehr vor der Brust, Splitterschutzweste, Helm, Pistole im Halfter - die immer zu zweit auftretenden Soldaten sehen aus, als zögen sie direkt in den Krieg.

Seit dem jüngsten „Vorfall“ ist jede öffentliche Kritik an dem teuren Einsatz der rund 1000 Soldaten in der Stadt verstummt. Die im Hauptbahnhof wachenden Militärs erschossen vor einigen Wochen einen Attentäter, als dieser seine Bombe zündete. Der mit Nägeln gespickte Sprengsatz explodierte nur zum Teil.

"Fast nichts passiert"

Ein riesiges Glück für die Stadt und seine Bewohner, die das missglückte Attentat sofort abhakte. Keine Verletzten? Der Attentäter „neutralisiert“, wie es die Polizei formulierte? „Ist ja fast nichts passiert“, lautete der Grundtenorder Erleichterung unter des Gästen einer Abendveranstaltung, als die Nachricht hereinplatzt. Und man wendet sich gleich weiter den nur kurz unterbrochenen Gesprächen zu.
Niemanden in Brüssel überraschen sie, die immer wiederkehrenden Berichte über Verhaftungen potenzieller Gefährder, über die Aushebung geheimer Waffenverstecke, die Zahl der verhinderten Attentate.

Die potenzielle Terrorgefahr, ja es gibt sie. „So wie überall anders auch“, sagte Piero, der Wirt bei mir ums Eck. Seine Gäste kümmert es nicht. Die Touristenscharen sind nach dem Schockmoment des Vorjahres auch längst wieder zurück. Kein Mensch hat hier sein Leben umgestellt, weil mögliche Gefahr drohen könnte.

Über 500 junge Männer und Frauen aus Belgien sind für den „Islamischen Staat“ in den Krieg nach Syrien und den Irak gezogen. Einige werden wieder heimkehren. Man weiß es und versucht nicht daran zu denken. Hofft, dass Polizei und Geheimdienste aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und ihr Bewachernetz enger geknüpft haben.

Schwerst gezeichnet

Nur Karen geht mir nicht aus dem Kopf. Die junge Yoga-Lehrerin, die beim Attentat am Flughafen Zaventem lebensgefährlich verletzt wurde. Von allen Überlebenden des verheerendsten Anschlages in Brüssel war sie am längsten im Spital. Weit länger als ein Jahr. Ein einziges Mal mal gab sie ein TV-Interview. Abgemagert bis auf die Knochen, weil ihr die Bombe den Bauchraum und Magen zerfetzte, und sie jetzt nur noch intravenös ernährt werden kann. Alle drei Stunden mus sie Nahrung bekommen, sonst verhungert sie. Sitzen, gehen, nichts kann sie mehr, kein Tag ohne Schmerzen. „Kein Mensch sollte das ertragen müssen“, sagte sie, die sich doch nur in jenem falschen Moment, am falschen Ort angestellt hatte, um für ihren Flug nach Hause einzuchecken.