Überlebt: Österreicher berichten
Am Tag nach dem Anschlag auf den Boston Marathon stehen alle in der Stadt immer noch unter Schock. Die Straßen um den Ort der Explosionen sind leergeräumt und blieben zum Teil gesperrt, so wie Restaurants und Läden in der Gegend. Am Flughafen und in U-Bahnstationen patrouillieren Polizisten und US-Militärs der Nationalen Garde, Sicherheitskräfte sind omnipräsent.
Ein paar Dutzend Menschen pressen sich an den Polizeisperren an der Arlington Street, nahe der Stelle, wo am Montag die Bomben unter den Zuschauern des Marathons hochgegangen sind. Zwei Explosionen rissen dort drei Menschen in den Tod, mehr als 170 wurden verletzt. Eines der Todesopfer: ein Kind. Martin. Der Achtjährige war mit seiner Mutter und seinen beiden Schwestern zum Marathon gefahren, um seinen Vater anzufeuern. Als dieser über die Ziellinie lief, war er losgerannt, um ihn zu umarmen. Der Vater lief dann weiter in den Zielbereich, Martin rannte zurück zu seiner Mutter und seinen Schwestern. Dann die Explosion. Martin war sofort tot. Seine Mutter wurde schwer verletzt. Einer der Schwestern wurde ein Bein abgerissen. Allein der Vater und eine Tochter der Familie blieben unversehrt.
„Rennen beenden“
Ein 78-jähriger Läufer, der von der Wucht der Explosion knapp vor der Ziellinie niedergerissen worden war, äußerte sich derart: Ein Streckenposten habe ihm hochgeholfen, „damit ich das Rennen noch beenden konnte.“
Manche an der Arlington Street tragen noch ihre blau-gelben Marathon-Jacken vom Vortag, andere stehen mit Blumensträuße da. „Ich wollte nur meinen Respekt zeigen und der Menschen, der Toten und Verletzten gedenken“, sagt Anne Atkinson, eine junge Frau mit einem Luftballon mit der US-Fahne in der Hand. Ihr Freund war am Montag unter den Zuschauern und hat sie am Handy angerufen. „Er schrie hysterisch ins Telefon, als er versuchte, mir zu erklären, was passiert ist“, sagt die Frau zum KURIER. Der Anschlag habe bei ihr wieder die Gefühle und Ängste vom Terroranschlag am 11. September wachgerufen.
Der 24-jährige Student Keith Marvin war ebenfalls im Publikum. Eine Freundin hatte am Marathon teilgenommen. Ihr gehe es gut. Am Tag danach beschließt er, von Straßensperre zu Straßensperre zu gehen und Blumen niederzulegen.
Carmel Pace war unter den Läufern und noch einige Hundert Meter von der Ziellinie entfernt: „Ich verstand erst, was los ist, als mein Sohn mir entgegenkam, und sagte, der Marathon sei zu Ende“, sagt die Frau. „Viele der Zuschauer dachten zuerst, das seien Feuerwerke, aber ich wusste gleich, was los ist“, erklärt ihr 23-jähriger Sohn Stephen, ehemaliger Marinesoldat. „Mein Freund lief sofort zu den Verletzten, um zu helfen. Ich ging aber in die andere Richtung, um meine Mutter zu finden, und sie zu stoppen“, so Stephen.
Ausgegangen wird davon, dass die beiden Bomben in Mistkübeln versteckt und mit einem Mobiltelefon ferngezündet wurden. Laut CNN befanden sich die Bomben in Druckkochtöpfen. Die Bevölkerung wurde dazu aufgerufen, die Ermittler mit Hinweisen zu versorgen.
„Akt des Terrors“
US-Präsident Barack Obama hat den Bombenanschlag als Terrorakt bezeichnet. „Jedes Mal, wenn Bomben benutzt werden, um unschuldige Zivilisten zu treffen, ist das ein Akt des Terrors“, sagte Obama in Washington. Die Umstände der „abscheulichen und feigen“ Tat seien aber noch unklar.
Spanien setzte am Dienstag seinen Konsul in Boston wegen „Nichterfüllung seiner Pflichten“ ab. Der hatte am Montag um 18 Uhr ungeachtet des Attentats sein Büro geschlossen – 91 Spanier, die am Marathon teilgenommen hatten, erhielten keine Hilfe und keine Informationen.
Es ist alles so schnell gegangen. Ich habe die Läufer beobachtet und wollte meinen Mann in Empfang nehmen. Auf einmal gab es einen riesigen Knall und eine weiße Wolke ist aufgestiegen.“ In den schrecklichen Sekunden des Bostoner Marathons stand Doris Korcak nur 200 Meter hinter der Ziellinie. Ihr Mann sollte sie nicht überqueren. Thomas Korcak wurde 600 Meter vorher gemeinsam mit Hunderten anderen Läufern von der Polizei gestoppt.
Das Grazer Ehepaar blieb unverletzt. „Ich habe die Explosion nicht einmal gespürt. Nur gesehen. Auf einmal sind alle schreiend in meine Richtung gelaufen. Die Polizei hat hin und her geschrien, sie erwarten noch mehr Bomben“, schildert Doris Korcak. „Mein erster Gedanke war, irgendetwas muss ich jetzt tun. Ich bin die Strecke abgegangen, aber habe meinen Mann nicht gefunden.“
Das Handynetz war zu diesem Zeitpunkt deaktiviert, das Gebiet abgeriegelt. „Es sind viele Angehörige herumgelaufen und haben Namen geschrien. Als ich wieder denken konnte, habe ich angefangen zu rechnen. Irgendwann war ich mir sicher: Es ist zu früh. Mein Mann war noch nicht an der Unglücksstelle“, erzählt Korcak. Erst drei Stunden später konnte sie ihn im Hotel endlich wieder in die Arme schließen.
Andrea und Thomas Simeth aus Wals bei Salzburg sitzen am Dienstag in ihrem Hotel vor dem Fernseher und schauen Nachrichten. In 3:53 Stunden absolvierten die 47-Jährigen ihren ersten Boston Marathon – alles unwichtig, angesichts der Ereignisse am Montag. „Uns geht’s gut. Wir sind eine Viertelstunde vor dem Anschlag ins Ziel gekommen“, erzählt Andrea Simeth. Die beiden waren auf dem Weg zur Gepäckrückgabe, als die beiden Bomben hochgingen, 300 Meter vom Ehepaar entfernt.
Ein Unfall?
„Rauch ist aufgestiegen. Aber niemand hat realisiert, was gerade passiert ist. Wir haben gedacht, das war ein Unfall.“ Angst hatte Simeth nicht; auch Panik habe es keine gegeben. „Polizisten haben Straßen abgesperrt und ein Haus evakuiert, aber es ist total ruhig abgelaufen“, berichtet Simeth. „Es ist unvorstellbar. Es war so eine tolle Stimmung. Man läuft durch friedliche Orte, Menschen sitzen vor den Häusern, und es spielen Bands. Wer ist so wahnsinnig und missbraucht so ein Sportevent?“
Die fröhliche, tolle Stimmung vor dem Anschlag beeindruckt auch die routinierten Marathonläufer Norbert Albrecht (72) aus Enns und seinen Freund Franz Hofer (52) aus Ernsthofen. „Es ist traurig, dass eine derart lustige und freudvolle Veranstaltung ein solches Ende nimmt. Die Betroffenen haben mein Beileid“, sagt Hofer leise. „Ich wage gar nicht zu denken, was passiert wäre, wenn die Bomben wo anders platziert gewesen wären – etwa bei der riesigen, bis zum letzten Platz gefüllten Tribüne kurz vor dem Ziel.“
Hofer war zehn Minuten vor dem ersten Knall ins Ziel eingelaufen – „und damit im sicheren Bereich“. Sein Läuferfreund Albrecht wurde einige Hundert Meter vor dem Ziel in eine Seitenstraße manövriert. „Ich hatte keine Ahnung, was los ist. Dann riefen Leute ,the bomb, the bomb‘! Ununterbrochen jaulten die schrillen Sirenen von Rettung, Polizei, Feuerwehr. Innerhalb kürzester Zeit waren überall schwer bewaffnete Soldaten positioniert.“
Josef Egger, Reiseleiter von „Runners unlimited“ aus Vösendorf, steht knapp vor der Ziellinie, als die Bomben hochgehen. Seine Sorge gilt zehn Läufern aus Österreich, die beim Marathon unterwegs sind – darunter Hofer und Albrecht. „Von vier wusste ich nicht sofort, wo sie sind.“ Es dauerte, bis von allen die Entwarnung kommt: „Wir waren unglaublich froh, alle wohlbehalten wiederzusehen. Das wahre Ausmaß erfuhren wir aber erst später.“
Späte ErleichterungHelmut Kastl aus Lasberg (OÖ) war längst im Ziel, als es passierte. Wegen einer Zerrung fuhr er dann gleich mit seiner Frau zurück ins Hotel. „Die Stadt befindet sich noch immer im Ausnahmezustand“, sagt der 51-jährige voestalpine-Mitarbeiter. „Uns wurde aber versichert, dass wir ohne Probleme abreisen können.“
Neun Stunden lang haben Polizisten in der Nacht auf Dienstag eine Wohnung in einem Vorort von Boston durchsucht. Die Untersuchungen stünden in Zusammenhang mit den Anschlägen auf den Marathon, sagte ein Behördensprecher, hielt sich aber über mögliche Ergebnisse bedeckt.
Das FBI hat auf der Suche nach den Tätern jedenfalls Ermittlungen in zwei Richtungen aufgenommen: Regierungsfeindliche Personen oder Gruppen aus dem Inland und radikale Islamisten. Terror-Experten tendierten bei ihren Spekulationen eher in Richtung „heimischer“ Terroristen.
Die radikalislamischen Taliban in Pakistan haben jedenfalls bereits abgewunken: Sie hätten mit dem Anschlag in Boston nichts zu tun.
CNN berichtete am Abend unter Berufung auf Pentagon-Quellen, dass die US-Behörden bisher keine Hinweise darauf hätten, dass das Terrornetzwerk El-Kaida oder eine andere ausländische Gruppe hinter dem Anschlag steckt. US-Heimatschutzministerin Janet Napolitano sagte, es gebe derzeit keine Hinweise darauf, dass der Anschlag Teil einer größeren Verschwörung gewesen sei.
In mehreren großen TV-Sendern äußerten US-Experten übereinstimmend die Vermutung, dass die Tat eher auf das Konto einheimischer Extremisten gehen dürfte. Ein Hinweis dafür sei allein schon das Datum: Am 19. April 1995 hatte ein fanatischer Regierungsgegner ein Gebäude in Oklahoma-City in die Luft gesprengt und dabei 168 Menschen getötet.
Zudem wurde am Montag, dem Tag des Marathons in Boston, der Patriots Day gefeiert, der an den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg erinnert. Am 15. April läuft in den USA zudem die Frist für die Abgabe der Steuererklärung ab. Steuern sind ein Reizthema für einige amerikanische Extremistengruppen.
Es gab keine Zeit zu verlieren. Noch in der Nacht nach dem Anschlag von Boston ließen sich Vertreter der britischen Polizei per Videokonferenz zu den Kollegen in die USA durchschalten. Erste Details über die Technik der Bomben, deren Platzierung und die möglichen Hintergründe wurden besprochen. Schließlich findet der London-Marathon schon am kommenden Sonntag statt, und zwar „absolut so wie geplant“, versicherten die Veranstalter gemeinsam mit dem britischen Sportminister Hugh Robertson.
„Ich glaube, das ist genau der Moment, wo man am besten Solidarität mit Boston zeigt, indem man auf Kurs bleibt“, wehrte der Minister alle Fragen nach einer Verschiebung oder Einschränkung des Wettbewerbs ab: „Wir sind absolut überzeugt, dass das Rennen sicher ablaufen wird.“ Man bleibe in täglichem Kontakt mit den Behörden in Boston und dem FBI, um alle wesentlichen Details der Ermittlungen zu erfahren. Die 37.500 angemeldeten Teilnehmer würden per eMail auf dem Laufenden gehalten.
Vorerst mehr Kopfzerbrechen macht den Sicherheitsbehörden das heutige Begräbnis der in der Vorwoche verstorbenen früheren Premierministerin Margaret Thatcher. Dem Trauerzug, der heute Vormittag vom Parlament in Westminster in Richtung St.Pauls Kathedrale rollt, drohen allerdings eher wütende Proteste und ziemlich unhöfliche öffentliche Grüße an die bis heute umstrittene Politikerin. 300 Demonstranten haben sich für eine Kundgebung angemeldet, bei der man dem vorbeirollenden Sarg geschlossen den Hintern zeigen will. Die Polizei entschied sich nach längerer Diskussion, die Aktion zuzulassen.
Die 4000 Uniformierten, die zum Schutz der Trauerfeier im Einsatz sind, rechnen auch mit weniger friedlichen Protesten. In Internet-Foren begeistern sich immer mehr Menschen für die Idee, Milch auf die Straße und möglicherweise auf den Trauerzug zu schütten. Eine Erinnerung an die einst von Thatcher eingestellte Milchverteilung an britischen Schulen.
Geschäfte entlang der Route haben inzwischen Besuch von der Polizei erhalten, wie Eliott, Besitzer eines Sandwich-Ladens an der Fleet-Street, bestätigt: „Ich soll alles wegräumen, was als Wurfgeschoß benutzt werden könnte.“ Auch in den umliegenden Häusern hat man die Bewohner gebeten, Leitern, Schaufeln oder Mistkübel außer Reichweite von möglichen Protestierern zu schaffen. Für alteingesessene Londoner ist das Anlass für trockenen Humor. Mistkübel, die man werfen oder in denen man Bomben deponieren könnte, seien doch schon seit Margaret Thatcher und den Anschlägen der IRA eine Seltenheit. „Wer bei uns mit einer alten Zeitung herumläuft“, gibt sich ein Anrainer gelassen, „der läuft weit, bei uns gibt’s keine Mistkübel mehr – schon lange.“