Migrationsland Bayern: Eigenwillig und eigenständig
KURIER: Innenminister Horst Seehofer hat kürzlich gesagt, Migration ist die Mutter aller Probleme – ohne die gäbe es Bayern bzw. den Stamm der Bayern doch gar nicht.
Marita Krauss: Wir wissen aus der Urzeit, dass die Menschen immer gewandert sind und sich an bestimmten Orten ansässig gemacht haben. Wenn es nicht mehr wirtlich genug war, sind sie weitergezogen. Natürlich ist Bayern in der Völkerwanderungszeit entstanden. Auch später gab es viele Migrationswellen, die das Land intensiv mitgestaltet haben. Nach dem Dreißigjährigen Krieg gab es massive Verluste, die Pest hat gewütet. Das Allgäu wurde etwa von Tirol bzw. dem Österreichischen aus neu besiedelt, Franken von Böhmen aus. Natürlich gab es auch Auswanderung. Denken Sie an das 19. Jahrhundert, da sind viele Menschen, nicht unbedingt Altbayern, aber Menschen aus ärmeren Gebieten nach Nord- und Südamerika gegangen. Wanderungsbewegungen haben Bayern geprägt, genauso wie die Länder rundherum. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Bevölkerung durch die Aufnahme von Vertriebenen und Kriegsflüchtlingen aus den Ostgebieten verfielfacht. Dazu kamen die vielen Arbeitnehmer: Italiener, Türken und Spanier. Viele sind gebelieben, trotz Aufnahmestopp, und haben ihre Familien nachgeholt. Migration hat eine große und positive Rolle gespielt, etwa in der Baukunst: Die tollen Kirchen aus dem Barock entstanden durch die Graubündner Baumeister und italienischen Terrazzi. Neben dem kulturellen gab es auch wirtschaftlichen Austausch, zum Beispiel durch die italienischen Kaufleute in Augsburg. Es ist stimmt also nicht, dass Migration die Mutter aller Probleme ist. Natürlich ist es ein Slogan, der auf die heutige Situation Bezug nimmt. Er versucht, alles an Diskussionsthemen, die von der AfD und anderen Rechtspopulisten in Europa besetzt werden, auf dieses Problem zu reduzieren.
Abgesehen davon, dass Bayern von Migration profitierte, in welchen Bereichen war es – historisch gesehen – den Preußen und Österreichern voraus?
Die sehr liberale Verfassung von 1818 ist entstanden, als bei den anderen gerade das Rollback nach dem Wiener Kongress einsetzte. Also, ohne Druck von außen. Napoleon, der dies ja von seinen Vasallen-Staaten verlangte, saß da längst auf St. Helena. Im Vergleich zu den Karlsbader-Beschlüssen, die die Metternich-Ära einleiteten, hat Bayern in seiner liberalen Verfassung Werte festgeschrieben. Das waren Grundrechte wie Sicherheit und Freiheit der Person, Öffentlichkeit der Gerichtsverfahren, die 1848 weiter ausgebaut werden konnten. Der Reformer wie Maximilian von Montgelas hat die Beamtenreform durchgezogen. Sie wurden Staatsdiener und nicht wie in Preußen oder Österreich Diener der Fürsten. Die Beamten waren dem Staat verpflichtet, nicht nur dem König und das ging bis ins Militär. Auf der anderen Seite setzte Bayern nicht so schnell auf die Gewerbefreiheit wie Preußen. Wirtschaftlicher Aufschwung und Industrialisierung kamen deutlich später. Auf der anderen Seite hatte man mehr Mitsprache: Bürgerliche konnten früher in das Beamtentum einsteigen. Diese Bemühung ist sicher auch ein Versuch gewesen, alle durch Napoleon hinzugewonnenen Gebiete in ein Gesamtbayern zu integrieren. Das verlangte viele Kompromisse ab, verlangsamte den Fortschritt, führte aber zu weniger Pauperismus (Verelendung der Bevölkerung durch Industrialisierung, Anm.) und weniger harten Übergängen.
Das Wort Staat kommt immer und überall vor: Freistaat, Staatskanzlei, Staatsminister. Was hat es mit dieser Sonderrolle auf sich?
Es ist absurd. Bayern ist kein Staat und diese Behauptung versucht, Souveränität zu suggerieren, die man eigentlich nicht hat. Auch der "Freistaat" ist ein Zeichen dafür: Man ist ein Bundesland, will aber über einen Begriff kompensieren, der nichts anderes bedeutet als Republik. In die Verfassung haben sie nach dem Zweiten Weltkrieg haben sie ebenfalls ständig das "Staat" hineingeschrieben. Man hoffte, vielleicht doch noch innerhalb Deutschlands eine gewisse Souveränität gegen Deutschland zu behalten. Dass man eine bayerische Vertretung in Brüssel und Berlin eröffnet hat, ist ebenfalls die Behauptung eines Staatswillens. Ein Staat hat aber außenpolitische Kompetenzen, die ein Bundesland wie Bayern nicht hat, er hat auch die Möglichkeit, Krieg und Frieden zu erklären. Selbst wenn Herr Seehofer das immer wieder mal versucht, kann ihn auch ein bayerischer Parteivorsitzender oder Ministerpräsident nicht erklären.
Neben dem Souveränitätsstreben spielt der Gedanke von Recht und Ordnung scheinbar eine große Rolle, was überwiegt denn?
Sicher hat man mit der CSU-Regierung des letzten halben Jahrhunderts eine bestimmte Art von Politik nach außen getragen. Ich glaube, dass diese auch viel Akzeptanz gefunden hat. Aber, Bayern ist groß und nicht einheitlich. Ein ländliches Franken und eine Stadt Augsburg oder das Berchtesgadener Land kann man nicht über einen Kamm scheren. Sicherlich ist es so: Alle wollen in einem friedlichen Land leben, alle freuen sich, wenn die Verbrechensrate zurückgeht, das ist etwas was vielen gefällt. Was Sie mit Freiheit meinen, ist eher das Anarchische, was man den Bayern nachsagt. Oder das Auftrumpfende, nach dem Motto: "Wir gehen unsere Wege. Wenn wir wildern gehen wollen, tun wir das, der Staat kann uns mal." Das gibt es aber an vielen Orten, Bayern ist da sicher nicht so anders.
Apropos anarchisch: Heuer wurde bereits viel demonstriert in Bayern, zuletzt gingen am Mittwoch erneut mehr als 20.000 Menschen auf die Straße gegen den Rechtsruck und das Polizeiaufgabengesetz.
Die Aufregung in der Politik hat in den letzten Wochen und Monaten die Leute wieder aktiviert. Umgekehrt, wenn ich sehe wie diese Willkommenskultur, die heute nur mehr despektierlich betrachtet wird, die Menschen an die Bahnhöfe getrieben hat. Das zeigt auch, dass es eine große Bereitschaft gibt, sich zu engagieren. Das sehe ich als Teil des zivilgesellschaftlichen Engagements, das sich nicht nur in Demos niederschlägt sondern in konkreten Aktionen. Das ist am Land genauso da, wie in der Stadt.
Für den politischen Wirbel waren zuletzt CSU-Politiker verantwortlich, in den Umfragen sieht es nicht gut aus für die Partei, von einer absoluten Mehrheit ist sie weit entfernt. Steht dem Land bald eine politische Zäsur bevor?
Die CSU hat zu den Wahlergebnissen der Gesamtunion immer viel beigetragen, damit hat sie innerhalb eines Union-regierten Deutschlands eine entsprechende bayerische Position vertreten können. Warten wir mal ab. Ich bin mir nicht sicher, ob nach allem, was geredet wird, die alten CSU-Wähler nicht doch wieder ihr Kreuz bei der Partei machen. Es ist unglaublich, aber nach all den Skandalen, die die CSU erlebt hat, ist sie immer wieder aufgestanden.
Bayerische Politiker treten mit einer gewissen Großmannssucht auf – hat das den Bayern geholfen auf dem politischen Parkett oder hat dieses Gehabe, dieser Politikertypus ein Ablaufdatum?
Ich habe sieben Jahre an der Universität in Bremen gearbeitet. Meine Kollegen konnten mit einem Beamtentyp wie Edmund Stoiber mehr anfangen als mit Franz-Josef Strauß. Er wirkte rationaler, berechenbarer. Politiker, die auf den Tisch hauen, sind den Leuten im Norden sehr fremd. Sie verstehen diese Attitüde nicht, wie sie besonders in den letzten Monaten sichtbar wurde. Wenn ich meine Bremer jetzt nach ihrer Meinung frage, sagen sie: Dann sollen die Bayern halt rausgehen, sich ihr eigenes Land machen. Wenn man von Gesamtdeutschland auf Bayern schaut, wird das eher als skurril und zurückgeblieben wahrgenommen. Das bestätigt die hinterwäldlerische Vorstellung von Bayern, die man seit dem 19. Jahrhundert hat: Die katholisch sind, ihre Tracht anhaben und am Stammtisch Parolen von sich geben. Dieses Bild findet man in norddeutschen Medien immer noch. Und ich frage mich dann, sehen die nicht, was sich an Industrie und Wissenschaft im süddeutschen Raum angesiedelt hat. Da stimmt das Klischee nicht mit Bruttosozialprodukt überein.
Was man in der Debatte über Bayern zuletzt wieder hörte: Dann sollen die doch zu Österreich gehen.
Die Österreicher haben Bayern ja etliche Male besetzt. Im 20. Jahrhundert gab es aber immer wieder die Idee, dass man mit Österreich zusammengehen könnte. Als das K.u.K-Reich noch bestand, hatte man keine Absicht, eine weitere Provinz Österreichs zu werden.
Aber nach dem Ersten Weltkrieg gab es massive Überlegungen seitens bayerischer Separatisten, die Südtirol ebenfalls dazu nehmen wollten, eine Art Alpenrepublik zu gründen.
Wie steht es um die gegenseitigen Sympathien?
Ich glaube, dass die mentale Nähe größer ist, als zwischen Bayern und Bremen. Ludwig I. formulierte schön, dass man eine gemeinsame deutsche Kulturnation hat, die sich auf gemeinsame Sprachwurzeln und Kultur und Aufklärung bezieht. Spätestens nach 1866, als die Österreicher gegen die Preußen verloren haben und Bayern mehr oder weniger zur Beute auf preußischer Seite wurde, war Schluss mit den Großdeutschen Ideen, für die Bayern immer eingetreten war. Das alte Heilige Römische Reich deutscher Nation war eben von Österreich aus regiert worden und nicht von Berlin. Insofern war die Sympathie in Südbayern immer groß. Schwaben und Franken waren ebenfalls reichstreu und haben auf den Kaiser in Wien geschaut haben. Auch als es 1848 um die Ausarbeitung einer Reichsverfassung ging, haben sie sich mehr als Bürger von Erzherzog Johann gefühlt, denn als Bayern.
Ich halte den berühmtem Weißwurstäquator für mehr als nur für einen Slogan. In Bremen wurde ich als Wissenschaftlern mehr nach Berlin und Hamburg eingeladen, da war München nicht nur räumlich weit weg, das war einfach was etwas anderes. Von München wiederum wird man vielmehr von Österreichern angefragt. Dennoch will man nicht vereinnahmt werden, weder hier noch dort. Auch wenn es Bemühungen gibt: Aber das erweist sich schon alleine wegen der Größe als schwierig. Das merkt man, wenn man mit dem Zug durchs Land fährt. Bayern ist ein Drittel größer als Österreich. Dadurch ist Bayern auch selbstbewusst.
Zur Person: Marita Krauss ist Migrationsforscherin und Expertin für Europäische Geschichte, Bayerische und Schwäbische Landesgeschichte. Sie lehrt an der Universität Augsburg.
Was Sie über Bayern wissen sollten:
Ergebnis von Migration (ab 550 v. Chr.): Ein aus Böhmen stammendes Völkchen wandert in die Regionen um Regensburg, Passau und Augsburg ein und verbindet sich dort mit germanischen Alamannen, keltischen Raeti, Bürgern des weströmischen Imperiums sowie Hunnen, woraus der Stamm der Baiern entsteht. Dazu kommen nach den napoleonischen Kriegen (1792–1815) die Schwaben und Franken dazu. Nach dem Zweiten Weltkrieg nimmt Bayern die heimatvertriebenen Sudetendeutschen, Schlesier, Ostpreußen und andere auf, insgesamt zwei Millionen Flüchtlinge.
In Napoleons Windschatten zum Königreich (ab 1806): Bayern, seit 1180 von den Wittelsbachern beherrscht, ist nach dem Dreißigjährigen Krieg arm und verwüstet. Ein grundlegender Modernisierungschub kommt unter Kurfürst Max Joseph (später Max I. Joseph) bzw. dessen Minister Maximilian von Montgelas. Doch Bayern wird von vielen Großmächten bedrängt, allen voran Österreich. Montgelas unterzeichnet 1805 einem geheimen Bündnisvertrag mit Frankreich: Bayern stellt Napoleon Truppen zur Verfügung, dieser garantiert die Unverletzlichkeit des Hoheitsgebietes und bietet 1806 eine Krone. Doch der Handel hat seinen Preis: Bayern tritt mit 16 anderen Staaten dem Rheinbund bei, wird wahllos in jeden Krieg verwickelt, das leert die Kassen. Also startet Montgelas einen Seitenwechsel und schmiedet mit Österreich eine Allianz gegen den Franzosen, darf weiter ein souveränes Königreich bleiben.
Moderner als andere (ab 1818): Montgelas schafft 1808 mit der ersten Verfassung die Leibeigenschaft ab. 1818 gibt der König dann erneut eine Verfassung: Sie sieht ein Zwei- Kammern-Parlament aus Hochadel und gewählten Abgeordneten vor (Adelige, Geistliche, Großgrundbesitzer), die überGesetze abstimmen, aber Regierung und König nicht kontrollieren. Die Verfassung gewährt auch die Gleichheit vor dem Gesetz, Religionsfreiheit, erweiterte Meinungsfreiheit und Zugang zu den Staatsämtern nach Befähigung statt nach gesellschaftlichem Stand –damit ist Bayern anderen voraus.
Ausrufung des Freistaates (1918): Der jüdische Journalist und Sozialist Kurt Eisner, ein in Bayern lange ansässiger Berliner, führt am 7. November 1918 eine unblutige Revolution an. Damit beendet er nach 738 Jahren die Herrschaft der Wittelsbacher und proklamiert das Land als Freistaat – die Staatsgewalt geht vom Volk aus (Heute hat die Bezeichnung nur noch historische Bedeutung, verweist auf keine Sonderrechte mehr, die über die Landesrechte der übrigen Bundesländer hinausgehen). Eisner wird Ministerpräsident, aber im Februar 1919 von einem völkisch-nationalistischen Studenten erschossen.
Zentrum der NS-Bewegung (Anfang der 20er-Jahre): Anfang der 1920er wird Bayern zu einem Zentrum rechtsgerichteter Opposition gegen die junge Demokratie der Weimarer Republik. 1923 nimmt im Münchner Bürgerbräukeller Hitlers Putschversuch seinen Ausgang, die NSDAP wird in der Folge verboten, 1925 aber neugegründet. Die Macht erobert Hitler von Berlin aus, er ruft aber dennoch 1935--München zur „Hauptstadt der Bewegung“ aus. In Bayern errichteten die Nazis 1933 auch ihr erstes Konzentrationslager, in Dachau werden Funktionäre von SPD und KPD interniert. In München formierte sich aber auch die Widerstandsbewegung „Weiße Rose“ um die Geschwister Scholl.
Ein Land fest in CSU-Hand (1945): Das war nicht immer so. 1945 als Sammlungspartei gegründet, muss die CSU um die Vorherrschaft kämpfen, ist in Flügelkämpfe verstrickt. Unter Franz-Josef Strauß entwickelt sich die CSU trotz Begrenzung auf Bayern verstärkt zur Bundespartei, die meist mit absoluter Mehrheit regiert und sich als „Hüterin der Interessen in Bonn“ stilisiert, später als Partei, die wie keine andere, Einfluss in Berlin habe. Strauß wird zu dem bestimmenden Politiker Bayerns, übersteht zahlreiche Affären, Skandale und
Korruptionsvorwürfe und ist bis heute verehrt.