Anti-Terror-Einsätze in Brüssel
Es war absolut gespenstisch: Hubschrauber kreisten dicht über den Häusern, Sirenengeheul, Polizeiautos rasten mit Blaulicht durch die Straßen, Menschen flüchteten. Im Zentrum von Brüssel, in unmittelbarer Nähe des Grand Place, führte die Polizei Sonntagnacht mehrere Anti-Terror-Einsätze durch. Nach Abschluss der Großaktion teilte der Staatsanwalt in den frühen Morgenstunden die Bilanz mit: 16 Personen sind festgenommen worden. Der mit internationalem Haftbefehl gesuchte 26-jährige Belgier Salah Abdeslam sei nicht unter den Festgenommenen. Vermutlich war er an den Pariser Attentaten mit insgesamt 130 Toten beteiligt.
Ingesamt gab es laut dem Staatsanwalt 19 Durchsuchungen in der Hauptstadtregion Brüssel. Es seien dabei weder Waffen noch Explosivstoffe gefunden worden. In der Gemeinde Molenbeek kam es auf der Straße zu einem Schusswechsel. Eine Person sei verletzt worden.
Nachrichtensperre
Die belgische Regierung hatte während der großangelegten Aktion eine totale Nachrichtensperre verordnet, Nützer sozialer Medien, wie Twitter und Facebook waren aufgerufen, keine Tweets oder Nachrichten abzusetzen. Das Netz reagierte daraufhin mit Katzenbildern unter dem Hashtag #BrusselsLockdown.
In der Hauptstadtregion gilt weiterhin die höchste Terrorwarnstufe. In Brüssel sollen sich zwei Terrorverdächtige aufhalten, darunter Salah Abdeslam. Er ist der Bruder von einem der Pariser Selbstmordattentäter und stammt aus dem Brüsseler Viertel Molenbeek – und er soll mit einem Sprengstoffgürtel unterwegs sein.
Einsatz im EU-Viertel
Nach Angaben des Senders RTBF und der Polizei waren Einheiten auch im Stadtteil Etterbeek aktiv. Hier ist das Europa-Viertel mit den EU-Institutionen Europäisches Parlament, Kommission und Rat. Die EU-Spitzen zeigten sich alarmiert, etliche Termine wurden für heute abgesagt. Das Kommissionsgebäude ist von Militärs umzingelt. Dennoch soll das Treffen der Euro-Finanzminister sowie der Bildungs- und Kulturminister am Montag stattfinden, hieß es Sonntagnacht. Die EU-Vertreter versuchen Normalität vorzutäuschen.
Vor dem massiven Polizeieinsatz hatte die belgische Regierung die seit Samstag geltende höchste Terrorwarnstufe verlängert. Montag Nachmittag werde die Lage neu beurteilt. Begründet wurde dies mit der „unmittelbaren Gefahr von Anschlägen wie in Paris“. Brüssel ist seit Samstag im Ausnahmezustand – gepanzerte Fahrzeuge, maskierte, schwer bewaffnete Militärs und Polizei sieht man in der ganzen Stadt, das gesamte U-Bahn-Netz ist still gelegt, Märkte und öffentliche Veranstaltungen sind abgesagt, viele Menschen ziehen es vor, in ihren Häusern und Wohnungen zu bleiben.
Etliche Fehlalarme hielten die Einsatzkräfte zusätzlich auf Trab. So sorgte eine Bombendrohung gegen das Medienhaus der flämischen Gruppe Medialaan in Vilvoorde bei Brüssel für einen Großeinsatz. Fehlalarm gab es auch in Mechelen, wo der Bahnhof für kurze Zeit geräumt wurde.
Schulen, Unis sind zu
Zu Beginn der neuen Arbeitswoche sind alle Krippen, Kindergärten, Schulen, Universitäten, Museen und öffentliche Einrichtungen in Brüssel geschlossen. Auch Einkaufszentren sollen geschlossen bleiben. Das Krisenzentrum empfiehlt, belebte Orte wie Bahnhöfe und Flughäfen weiterhin zu meiden sowie Veranstaltungen abzusagen. Ein Verkehrschaos wird heute befürchtet. Viele Menschen sind verunsichert und wissen nicht, ob sie zu Hause bleiben sollen. Banken haben ihre Mitarbeiter angewiesen, heute Telearbeit zu leisten.
Tausende Anrufe
Das Krisenzentrum der belgischen Regierung verzeichnet bereits Tausende Anrufe besorgter Bürger. „Ich verstehe das nicht, ich will normal leben und meiner Arbeit am Wochenbeginn nachgehen“, sagt ein Bus-Chauffeur zum KURIER. Ein Betreiber eines Waffelstandes im Zentrum ist besorgt um seine Einnahmen. „Wenn es so weiter geht, kann ich meinen Laden schließen.“
Der Unmut vieler nimmt zu, auch die Unsicherheit. „Was ist wirklich los?“, fragt die Zeitungsverkäuferin am Airport. „Hoffentlich werden die Terroristen bald gefasst, dann kehrt hoffentlich wieder Ruhe ein.“ Das Schengen-Regime am Flughafen ist ausgesetzt, alle Pässe werden wieder kontrolliert.
„Wir haben erfahren, dass sich zwei Terroristen auf Brüsseler Territorium befinden und gefährliche Taten verüben könnten“, sagte der Bürgermeister von Schaerbeek bevor die Polizei-Einsätze im Zentrum begannen. Zuvor hatten sich Gerüchte verdichtet, dass sich Salah Abdeslam in Brüssel aufhält. Aber laut Belgiens Innenminister Jan Jambon ist „die Bedrohung größer als Abdeslam allein“. Es handle sich um „mehrere Verdächtige, deshalb haben wir eine derartige Vielzahl von Maßnahmen eingeleitet“.
Mohamed Abdeslam hat seinen Bruder Salah via TV aufgefordert, zur Polizei zu gehen. „Wir wollen, dass Salah sich stellt“, sagte Mohamed Abdeslam gestern im Interview. „Damit er uns, seiner Familie und den Familien der Opfer und all den anderen Menschen die Antworten geben kann, auf die wir warten.“ Zur intensiven Fahndung nach seinem Bruder sagte er: „Wir ziehen es vor, Salah im Gefängnis zu sehen als auf dem Friedhof.“
Radikalisierte Brüder
Tot ist bereits sein Bruder Brahim Abdeslam: Er hat sich am 13. November im Restaurant „Comptoir Voltaire“ in Paris in die Luft gesprengt.
Seine Brüder hätten sich radikalisiert, ohne dass die Familie es bemerkt habe, sagt Mohamed im TV-Interview. Er selbst war in Molenbeek festgenommen, aber bald wieder auf freien Fuß gesetzt worden.
Unklarheit in Hannover
Ob Gefahr beim Länderspiel Deutschland – Niederlande am vergangenen Dienstag in Hannover bestand, bleibt unklar. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung schreibt mit Verweis auf Sicherheitskreise, ein "minutiös geplanter Terrorangriff" sei nur durch die Absage in letzter Minute verhindert worden. Die Gruppe könne noch zuschlagen. Laut ZDF gibt es keine Hinweise, dass eine Terrorzelle mit Anschlagsplänen in Hannover überhaupt existiert.
Eine Stadt unter dem Damoklesschwert:
Drei mutmaßliche IS-Kämpfer, die sich unter die Flüchtlinge mischen und unauffällig von Österreich nach Deutschland einreisen wollen: Dieser Hinweis ging beim Deutschen Bundesnachrichtendienst ein. Das Ziel der Reise sollte vermutlich Berlin oder Hamburg sein – ein terroristischer Hintergrund wurde nicht ausgeschlossen.
Laut dem Informanten hätte der Grenzübertritt der drei jungen Männer in der Nacht von Samstag auf Sonntag stattfinden sollen. Doch der Verdacht bestätigte sich nicht.
"In ganz Europa gehen derzeit viele Hinweise, Gerüchte und Mutmaßungen ein. Die Behörden tauschen sich aus – allen Hinweisen wird nachgegangen", sagt Karl-Heinz Grundböck, Sprecher des Innenministeriums. "Im konkreten Fall hat sich der Verdacht nicht erhärtet."
Die Hinweisgeber stammen aus der Bevölkerung – oder sind unter den Flüchtlingen. Auch andere Behörden geben derartige Verdachtsfälle sofort weiter. Man nehme sie alle ernst, wird betont.
Die Terrorgefahr in Österreich ist nach Ansicht des Geheimdienst-Experten Siegfried Beer und des Islamwissenschafters Rüdiger Lohlker so groß wie vor der Anschlagsserie in Paris vergangene Woche auch schon. "Man hat jederzeit damit rechnen müssen, und man muss jederzeit damit rechnen. Allerdings ist das noch lange kein Grund, in Panik zu verfallen", sagte Lohlker im Gespräch mit der APA.