Zwischen Traum und Albtraum
Von Stefan Schocher
Diese Stadt ist eine Festung, ein Handelszentrum, ein kleiner Staat im Staat, ein Afghanistan im Kleinformat. Der urbane Traum jener, die aus der Provinz oder aus dem Exil hier her gekommen sind – um es in Kabul zu versuchen. Und ebenso deren Albtraum. Gekommen sind sie in Millionen. 1,5 Mio. Einwohner zählte Kabul 2001. Heute geht die Stadtverwaltung von bis zu sechs Mio. Einwohnern im größeren Einzugsgebiet aus.
Ende der Träume
Nicht selten enden die Träume der Zugereisten an den Hängen der Berge in der Stadt oder in Wildwuchssiedlungen an ihrem Rand. Ohne Wasser, Strom oder Kanalisation. Auf dem TV-Berg – so genannt wegen der Antennenanlagen auf seinem Rücken –, der den Süden und den Norden Kabuls voneinander trennt, ist sie weit entfernt, diese Metropole. Kleine Hütten kleben an den Hängen. Ein kalter Wind bläst von den Schnee-bedeckten Bergen rundum. Kinder spielen im Müll, wärmen ihre Hände an einem kleinen Feuer in einer Felsnische und legen Plastiksack um Plastiksack nach.
Zu Fuß ist es von hier eine gute Stunde über eine löchrige Straße hinunter; dorthin, wo diese Stadt wieder beginnt, Stadt zu sein. Von hier oben sind ihre Straßen, die Glasfassaden und die von den Sowjets errichteten Wohnblocks nur durch einen dicken Schleier aus Staub und Smog zu sehen. Zu hören sind nur das entfernte Hupen der Autos und die Rufe der Muezzins.
Jeden Morgen, wenn der Verkehr lautstark anschwillt in den Straßen Kabuls, erhebt sich eine dicke Staubwolke über dem Zentrum. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang staut es sich. Den Verkehrspolizisten mit ihren Staubmasken kommt dabei eher eine Statistenrolle zu. Einbahn ist nicht immer Einbahn. Der Einwand der Ordnungshüter zählt kaum.
Straßenschilder machen in all dem Treiben dann klar, wo man sich befindet – nämlich in einem Land, das mitten in einem schwelenden Bürgerkrieg steckt: „Stählener Ring“ steht mahnend vor Checkpoints, der Name des Sicherheitssystems Kabuls.
Checkpoints
Unzählige Checkpoints haben die Sicherheitskräfte überall an Kreisverkehren und Kreuzungen errichtet. Ein großer Teil der Innenstadt ist völlig abgesperrt. Dort befinden sich die für die Taliban lohnendsten Ziele: Botschaften westlicher Staaten, das Hauptquartier der NATO-Truppe ISAF, der Präsidentenpalast und einige Regierungsgebäude – hinter Betonwällen und Stacheldraht, bewacht von nervösen Soldaten der afghanischen Armee hinter Sandsäcken.
Nervös sind auch die Polizisten auf dem Markt, wo sich tagtäglich Tausende Menschen drängen. Ebenso wie vor Polizeistationen. Und ebenso unruhig sind die schwer bewaffneten privaten Sicherheitsleute, die vor allen größeren Einrichtungen postiert sind. Zu oft gibt es Angriffe. „City Center“ heißt eine noble Shoppingmall im Zentrum. Blank geputzte Auslagenscheiben, ein Café, Schmuck-, Mode-, und Buchläden (Stalin- und Che- Guevara-Biografien neben Hitlers Mein Kampf auf Dari) im Inneren. Das Foyer: eine Sicherheitsschleuse. Von Außen sieht das Zentrum aus wie ein Bunker.
In all dem hat Kabul seinen Lebenswillen nicht verloren. In Parks werden Luftballons verkauft und auf dem Markt mit seinen verwinkelten Gassen freut sich der Besitzer eines Ladens, in dem Winddrachen verkauft werden, über florierende Umsätze. In Kriegsruinen, deren Obergeschoße weggebombt sind und deren Fassaden Einschusslöcher zeichnen, werden Läden aufgemacht, und Geldwechsler am Rande des Marktes rangeln scherzend darum, wer das dickste Geldpaket hat. „Du hast ja nur kleine Scheine“, sagt einer und lacht den vermeintlichen Sieger aus. Aber diese Stadt kann ihre blutige Geschichte nur schwer abschütteln. Als „sehr altes Haus“ gilt jedes Gebäude, das den dreißigjährigen Krieg, den dieses Land hinter sich hat, überstanden hat. Und vorbei ist er nicht, wie ein junger Mann sagt. Ethnische Hazara meiden die Viertel der Paschtunen – und umgekehrt, erzählt er. Ebenso sei es zwischen Tadschiken oder Usbeken und Paschtunen. Er selbst ist Paschtune, die Frau, die er liebt ist Hazara. Jeden Tag müsse er sich deswegen Kommentare anhören. Afghanische Normalität nennt er das und zögert – oder doch eher Realität ohne Normalität.
Es ist dann die Realität, die über den jungen Mann hereinbricht wenn er sagt, dass es noch lange dauern wird, bis sich dieser Ort von seiner täglicher Gewalt befreien wird. Gewalt, vor der die Augen verschlossen werden – die Wahrnehmungsschwelle ist hoch.
In einem Hauseingang wird ein Bursche von einigen Männern niedergeprügelt. Er schreit, zittert. Dutzende Passanten gehen ungerührt vorbei – eine Gruppe von Polizisten mit Kalaschnikows schaut weg.
KURIER: Sie haben den Spitznamen „Erbauer von Kabul“. Worin sehen Sie Ihre größte Herausforderung?
Muhammad Yunus Nawandisch: Kabul war nach drei Jahrzehnten Krieg komplett zerstört. Seit dreieinhalb Jahren bin ich Bürgermeister. Wir haben Straßen erneuert, neue Straßen gebaut. Nach dem Plan von 1978 wurde Kabul für 1,2 Mio. Bewohner geplant. Heute haben wir sechs. Die Straßen sind für 30.000 Autos ausgelegt. Aber wir haben 700.000 Autos in der Stadt. Auch die Müllentsorgung: Wir haben Müllsammelwagen angeschafft. Vor dreieinhalb Jahren gab es kein Licht. Wir haben Straßenbeleuchtung installiert. Außerdem gibt es keine adäquate Kanalisation und Wasserversorgung. Aber das fällt in die Verantwortung der Regierung.
Wie sinnvoll ist die Aufteilung der Kompetenzen zwischen Regierung und Stadtverwaltung?
Wir haben eine ständige Diskussion mit der Regierung, vor allem über die Verantwortung über den öffentlichen Verkehr. Der obliegt dem Innenministerium. Und das hat durchaus anderes zu tun. Da haben wir ein Problem. Was Wasser- und Kanalsysteme angeht, sind wir in Gesprächen, das an eine private Firma auszulagern.
Wie wichtig ist ausländisches Geld für Ihre Arbeit hier?
Ich habe etwa ein Jahr gebraucht, um die internationale Gemeinschaft hier davon zu überzeugen, dass ich gegen Korruption kämpfen werde. Derzeit haben wir gute Bedingungen. Wir haben Projekte von USAID, der Weltbank, der japanischen Regierung, der türkischen Regierung und auch der EU.
Wie kommen Sie zu Ihrer Autorität?
Es ist schwer. Ich habe ein Stück Land gekauft. Am Friedhof. Ich habe mein Grab gekauft. Und das habe ich auch der Mafia vermittelt. Dass ich bis zum Ende meines Lebens kämpfen werde.
2014 wird wohl sehr viel weniger ausländisches Geld nach Kabul fließen. Ist das ein Risiko?
Wir wissen, dass man uns nicht immer helfen wird. Als ich dieses Amt übernommen habe, haben wir jährlich 30 Mio. Dollar eingenommen. Heute sind es 90 Mio. Wir haben ein Problem: Die Menschen müssen verstehen, dass Service Geld kostet; dass sie Steuern zahlen müssen.